Abstieg in die Trümmerberge

Zu den Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs gehörte auch Schutt – viel Schutt. Bis heute prägt er insbesondere städtische Landschaften, was mal mehr, mal weniger bekannt ist. Die Virtual-Reality-gestützte Erforschung dieser Unterwelt brachte Jennifer Li Kamm, Architekturabsolventin der TU Braunschweig, jetzt einen renommierten Preis ein

Virtuelle Einfahrt: Durch einen Schacht geht es hinab in den Berliner Bunkerberg Foto: Abb.: Jennifer Li Kamm

Von Bettina Maria Brosowsky

„Monte Scherbelino“ werden sie liebevoll genannt, in Stuttgart, Frankfurt oder auch Paderborn: Trümmerhügel aus dem Schutt der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, oft die einzige topografische Erhebung im platten Terrain der jeweiligen Stadt. Ganz pragmatisch verkippte Hamburg einst einen Teil seines Kriegsschutts in der Elbe. Damit bewerkstelligte man Küstenschutz im Alten Land, die größere Masse soll jedoch unter den Hügeln des Öjendorfer Parks ruhen. Und Hannover, nicht minder ergebnisorientiert, modellierte einen Aufwurf neben den Maschsee, nutzte ihn als Zuschauertribüne des 1954 eröffneten „Niedersachsenstadions“. Einer Absolventin der Technischen Universität Braunschweig hat die Beschäftigung mit angehäuftem Trümmerschutt nun einen renommierten Architekturpreis eingebracht.

Humboldt, Maria und der Teufel

Berlin betraf die Sache besonders: Geschätzt 80 bis 90 Millionen Kubikmeter Schutt hinterließ hier der Zweite Weltkrieg. Von zuvor 1,5 Millionen Wohnungen in der Stadt war nach dem Krieg weniger als die Hälfte noch bewohnbar, groß waren aber auch Verluste öffentlicher und sakraler Bauten, in Gewerbe, Industrie und technischer Infrastruktur, etwa Bahnhöfe. Aktuell kartiert sind 19 landschaftsgärtnerisch in Berliner Grünanlagen integrierte Trümmerberge – inklusive der Provenienz dieses Schutts; vermutet werden weitere kleinere, lange unerkannte. Humboldt-, Gustav-Meyer- oder Marienhöhe: Manche ihrer Namen klingen euphemistisch, andere – Kippe Friedrichsfelde oder Teufelsberg – dagegen nach Berliner Sarkasmus.

Den BDA-SARP-Award vergeben seit 2012 der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) und der polnische Architektenverband SARP.

Für den höchstrangigen Preis für Architektur-Absolvent:innen in beiden Ländern – dotiert mit 2.5000 Euro – nominieren Architekturfakultäten ihre besten Abschlussarbeiten. Eine Jury benennt bis zu neun Finalist:innen in Polen und Deutschland, die – in Nicht-Pandemiezeiten – zu Workshop und Preisverleihung zusammenkommen.

Ihren Anfang nahm die Auszeichnung (auch) an der TU Braunschweig: 1985 durch Walter Henn, Professor für Baukonstruktion und Industriebau, und eine polnische Kollegin ins Leben gerufen, sollte der – bis 2011 – „Walter-Henn-Förderpreis“ ursprünglich Absolvent:innen aus Polen einen Praxisaufenthalt in der Bundesrepublik ermöglichen und Austausch erleichtern – nicht selbstverständlich in Zeiten des Eisernen Vorhangs.

In einigen der Hauptstadthügel ruht aber nicht nur Kriegsschutt und – mitunter – Hausmüll aus späteren Jahren. Man nutzte sie auch, um unliebsame Reste von NS-Bauten verschwinden zu lassen: Flakanlagen und Bunker oder, so am Teufelsberg im Berliner Grunewald, gleich die ganze Ruine einer „Wehrtechnischen Fakultät“ der Technischen Hochschule. Die war 1937 als erster Abschnitt einer neuen Hochschulstadt für die „Reichshauptstadt Germania“ begonnen worden, kam aber über einen rudimentären Rohbau nicht hinaus, als Anfang 1940 „kriegsunwichtige“ Bauvorhaben eingestellt wurden. Auf etwa 120 Meter über Normalnull geschüttet, erhielt die Höhenlage mit soliden NS-Grundfesten in Zeiten des Kalten Krieges dann neuerlich eine militärische Widmung: Die West-Alliierten platzierten hier ihre gen Osten gerichtete Abhöranlage „Field Station Berlin“. Obsolet geworden, verfällt sie seit der Wiedervereinigung zum pittoresken „Lost Place“. Das ließ sie zum touristischen Ziel werden – und zum Ort für Graffiti- und Filmkunst: Julian Rosefeldt etwa siedelte hier 2015 eine seiner zwölf vom Sprengel Museum in Hannover co-produzierten „Manifesto“-Episoden an: Er ließ Cate Blanchett in der Rolle eines Obdachlosen Programme des Situationismus’deklamieren.

Gehaltvolle Erinnerungstopographien

Nicht überraschend, dass solche Hügel auch ins Blickfeld von Studierenden, Absolvent:innen und wissenschaftlichem Nachwuchs der Architekturfakultäten rückten. Philipp Reinfeld, akademischer Rat am Institut für Mediales Entwerfen der TU Braunschweig, erfasste ein großes Plankonvolut zum Teufelsberg, destillierte daraus ab 2013 zwei Semesterprojekte. Eine gartendenkmalpflegerische Diplomarbeit an der TU Berlin hatte bereits 2009 Trümmerberge erforscht, wollte den stadtgeschichtlichen Denkmalwert dieser „Erinnerungstopographien“ verdeutlicht und wenigstens durch Informationstafeln erklärt wissen, was in ihnen liegt.

Einen Schritt weiter ging, wiederum in Braunschweig, im Sommersemester 2019 Jennifer Li Kamm mit ihrer Masterarbeit: Sie drang tief ein ins Innere der Trümmerlagen – , zumindest auf dem geduldigen Papier, in Modellstudien und mittels Virtual-Reality-Technik. Sie wählte zwar nicht den Teufelsberg, den sie aus dem Studium kannte, sondern unter anderem den großen und kleinen Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain. Die Namen erinnern an zwei Flak- und Hochbunker, die 1941 in den Park gesetzt und im April 1946 auf Geheiß der Alliierten gesprengt wurden. Da nicht alle monströsen Reste komplett eingeschüttet werden konnten – unter anderem mit dem Abtrag des Berliner Stadtschlosses –, sind einige Relikte als „Erinnerungszeichen“ bewusst sichtbar belassen.

VR-Blick ins Innere der Berge: Kamm (r.) bei der Präsentation ihrer Master’s thesis Foto: Jennifer Li Kamm

Mit 87 und 57 Metern Höhe erreichen auch diese Trümmerberge stattliche Dimensionen. Rund 50 Meter tief treibt Kamm nun einen stählernen Schacht ins Innere des größeren Bunkerbergs: Er macht es Besucher:innen virtuell möglich, in den Berg und seine Geschichte einzufahren. Aber nicht nur das: Kamm macht anhand von historischen Fotos zerstörte Gebäude und städtische Situationen wieder erlebbar, die hier lagern; sie aktiviert Materie und den – geschichtlich nicht unproblematischen – Erinnerungswert dieser verborgenen Archive. Ihre Entwurfselemente bleiben dabei symbolisch, ihre szenografischen Simulationen fragmentarisch: Es ist ein befragendes, interaktives Gedankenmodell, wie man es eher in der bildenden Kunst vermutet als in der realitätsverliebten Architektur.

Für „Trümmerberge Berlin. Virtual Reality Center“, aber auch für ihre neuartigen Entwurfswerkzeuge erhielt Kamm nun den deutsch-polnischen Architekturnachwuchsförderpreis „BDA-SARP-Award“ – Freude und Stolz sind nun auch in Braunschweig groß. Denn, immerhin: Kamm, geboren 1993 in München, wo sie seit einem Jahr wieder lebt und arbeitet, wird im nächsten Jahr sporadisch an die niedersächsische TU zurückkehren.