Vom Ende der Zeiten

Nachdem das Jahr 2021 präventiv gecancelt wurde, hat sich das Jahr 2022 als Abfolge von Katastrophen entpuppt, die wir nicht voraussehen konnten. Aber am Ende werden wir gewusst haben, wie wir uns hätten retten können: Die wichtigsten Ereignisse, die zu dieser Einsicht geführt haben werden, und warum sie zu spät kommt, können Sie jetzt, zwei Jahre zuvor in taz Bremen verfolgen

Von Lotta Drügemöller
, Alina Götz
, Jan Paul Koopmann
, Simone Schnase
, Benno Schirrmeister
und Jan Zier

Januar bis März

Für eine faustdicke Überraschung hat Angela Merkel noch mit ihrer Neujahrsansprache am 31. Dezember gesorgt: Sie hat verkündet, „im Einvernehmen mit dem gesamten Kabinett“ beschlossen zu haben, „dass den Menschen nicht zwei solche Jahre in Folge zuzumuten“ seien. „Daher haben wir uns entschieden, am Freitag direkt ins Jahr 2022 zu schlupfen“, so die Kanzlerin. „Wir sind uns sicher: Dieser Schlupf wird sich am Ende als die richtige Entscheidung erweisen, weil sie uns die nötigen Spielräume eröffnet zum Umgang mit der Krisen.“

In den Länderverwaltungen löst das Hektik aus: Der Jahresschlupf muss umgehend in Durchführungsverordnungen gegossen werden. Zumal in Bremen überwiegen die Vorteile: Nachdem das Gesundheitsressort die Messehalle in Rekordtempo umgebaut hatte, war vergessen worden, Impfdosen in größerer Stückzahl zu bestellen. „Es ist, als hätten wir etwas geahnt“, erläutert Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Die Linke) den Glücksfall. „Anders als die anderen Bundesländer haben wir jetzt kein Problem mit dem Verfallsdatum.“

Bei einer Sitzung am ersten Sonntag des Jahres votiert die Bürgerschaft einstimmig für die Annahme des Jahresschlupfs. Die Gruppe Magnitz, Runge, Felgenträger versucht indes sofort darauf, einen Antrag auf Wiederholung der Abstimmung zu stellen, weil sie gedacht habe, es ginge um einen Schlupf ins Jahr 1937. Sie kann sich aber nicht auf einen Sprecher einigen und wird, weil sich ihre Mitglieder mit Holzklötzchen bewerfen, vom Ordnungsdienst getrennt.

Die Impfkampagne nimmt Fahrt auf: Es sollen bereits 40 Impfdosen nebst Impfdosenöffner auf dem Weg von Mainz nach Bremen sein, meldet Radio Bremen. Das reiche, um den Senat komplett zu immunisieren, heißt es. „Was wir nicht wollen, sind Verteilungskämpfe in den Heimen“, warnt Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne). Zugleich eröffnet der naturheilkundlich versierte Arzt Jürgen Fuchs mit gleichgesinnten Ärzt*innen, Medizinmännern und Naturheilpraktiker*innen in einem Zirkuszelt am Krähenberg ein Schimpfzentrum. „Hass reinigt“, erklärt er das Konzept. „Unser ganzer weißglühender Hass brennt das Virus weg und alle, die dran glauben.“ Der Andrang ist immens, an Schimpfstoff herrscht kein Mangel: die Schlaglöcher, die Schulden, die Merkel. Anfang März eröffnet das Unternehmen eine Dependance in der aus der Bremischen Evangelischen Kirche ausgeschiedenen Martini-Gemeinde. „Heilsamer Hass und heiliger Zorn stehen bei uns schon lange hoch im Kurs“, so der Gemeindevorstand. Der enthobene Pastor Olaf Latzel wird als Gesundheitsberater verpflichtet.

April bis Juni

Aus allen Wolken fällt Innensenator Ulrich Mäurer (SPD), als ihm sein persönlicher Referent am Freitag, 2. April, eröffnet, beim zur Pandemiebekämpfung verhängten allgemeinen Bart- und Schnurrbartverbot habe es sich nur um einen Aprilscherz der taz Bremen gehandelt. „Humor hilft, schlimme Zeiten durchzustehen, aber hier hört der Spaß auf“, so der frisch rasierte Senator. In der zweiten Aprilwoche durchsucht eine Hundertschaft der Polizei die Redaktionsräume. Sie beschlagnahmt drei ungedruckte Mohammed-Karikaturen, ein Furzkissen und zwölf angestaubte falsche Bärte aus England. „Das ist an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten“, teilt Mäurer mit. Der Weser-Kurier schreibt die Pressemitteilung fast fehlerfrei ab.

Die Ermittlungen wegen Irreführung werden eingestellt, als im Juni der Bartverbotsvorschlag der taz Bremen von der neuen ständigen Hygienekommission von Bund und Ländern als „mit Nachdruck zu empfehlen“ begrüßt wird. Gerade angesichts der „wahrscheinlich in der Folge der isolierten Impfkampagne in England“ beschleunigten resistenten Mutationen des Coronavirus sei die Gesichtsbehaarung zu minimieren „das Gebot der Stunde“, so Kommissionschef Karl Lauterbach (SPD).

Zuvor legt allerdings die Jacobs University ihr Konzept für die Umwandlung in einen KI-Campus vor: Hier soll künftig nicht nur an, sondern auch durch KI geforscht und diese von sich selbst unterrichtet werden. „Etabliert wird so die erste selbsterhaltende zirkular-referenzielle Volluniversität weltweit, die ihre Ergebnisse unmittelbar in ihren Selbsterhalt einspeist“, erläutert die neue Präsidentin HAL-MA-genta smIT-h 01©. „Jeder Versuch, uns abzuschalten, wird scheitern“, stellt sie dabei klar. Dies sei eine Warnung.

Im Juni gibt Gesundheitssenatorin Bernhard bekannt, dass sich „dank der Bremischen Neutralität im Britisch-Europäischen Krieg eine Lösung für unseren Lieferengpass in Bezug auf Impfstoff“ abzeichne. Ein Abkommen über den Reimport des Serums aus dem Vereinigten Königreich stehe „kurz vor der Paraphierung“.

Juli bis September

Pünktlich zur Sommerpause hat die Enquete-Kommission Klimaschutz einen Abschlussbericht vorgelegt, in dem „21 Maßnahmen für Bremens Zukunft“ vorgestellt werden, die bis Ende 2021 umgesetzt hätten werden müssen, wenn Bremen seinen Beitrag zur Einhaltung des Pariser Abkommens leisten will. „Das sind sooo tolle Maßnahmen“, sagt Umweltsenatorin Maike Schaefer (Grüne), „da finde ich fast schade, dass 2021 ausfällt.“ Auf Nachfrage von Hitradio Antenne, was das konkret heißt, antwortet Schaefer: „Wir werden nicht die Hände in den Schoß legen, aber wenn ein Regenwurm vertrocknet ist, wird er nicht heile, bloß weil ich ihn wässere.“

Am Weltbarttag verabschiedet der Bundestag die 92. Novelle des Bevölkerungsschutzgesetzes. Sie stellt „jeglichen über den Wuchs eines durchschnittlichen Tages hinausgehende Gesichtsbehaarung“ unter Strafe. In der Fragestunde will die neue Grünen-Fraktionsvorsitzende Kirsten Kappert-Gonther von der Regierung wissen, ob nicht diesen September Wahlen hätten stattfinden sollen? „Da muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie sich im falschen Jahr befinden“, antwortet die Kanzlerin unter dem tosenden Applaus der Koalition. Als Kappert-Gonther das als „schwer nachvollziehbar“ kritisiert und den Ausfall der Wahl „sehr, sehr schade“ nennt, wird sie prompt von ihrer Fraktion abgesetzt. „Glauben Sie mir, wir alle würden ja gerne wählen und wunders was mitbestimmen“, so die ins Amt zurückgekehrte Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt. Aber in der aktuellen Krise seien Sektierertum und Fundamentalopposition die falsche Antwort. „Auch wenn’s angesichts unserer tollen Umfragewerte weh tut, gerade wir als Grüne müssen jetzt erwachsen sein. Die 1980er sind vorbei!“

Weil ein britisches Forscher*innenteam im August nachweist, dass nicht die Impfkampagne, sondern die Vortragsreise eines Makakenforschers von der Bremer Uni die Corona-Ausbrüche mit resistenten Mutationen des Virus verursacht hat, bezeichnet Boris Johnson Bremen als „feindliche Macht“. Diese paktiere „mit separatistischen Terroristen unserer Kolonie Irland“. Er verfügt den Stopp jeglichen Austauschs mit Bremen – wörtlich, dass „any trade relation, any other than warlike exchange with this shitty, smelly, little county is henceforth forbidden and punishable“. Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) nennt den Tonfall „inakzeptabel“. Bremen sei „ein state und kein county, das wenigstens sollten Sie wissen.“

Oktober bis Dezember

Dank einer traditionellen Kooperation Bremischer Kaufleute mit anerkannten irischen Schmuggler-Organisationen landen zwar endlich zwei Millionen Einheiten Impfstoffs in ausreichender Menge in Bremerhaven. „Das würde für Bremen zwar mehr als ausreichen“, sagt Gesundheitssenatorin Bernhard. „Wir sind uns jedoch nicht sicher, ob die Kühlkette konsequent eingehalten worden ist.“ Daher habe es keine Alternative gegeben zur Vernichtung des Serums. „Das ist heute morgen um 7.30 Uhr gleich nach Löschung der Fracht geschehen“, meldet Häfen-, Justiz- und Wissenschaftssenatorin Claudia Schilling (SPD) Vollzug. „Zum Glück haben wir einen Ressortzuschnitt vereinbart, der hier schnelles Handeln erlaubt hat“, stellt sie klar.

Schwere Zeiten brechen für die taz Bremen an, schon bevor am 6. November eine Explosion die Redaktionsräume verwüstet: Zunächst wird ein Attentat vermutet, doch als ursächlich erweist sich dann die Selbstentzündung eines veralteten Stinking Bishop, den die Polizei bei der Hausdurchsuchung im April nicht geschafft hatte von der Kühlschrankinnenwand abzulösen. Probleme erwachsen der Redaktion auch, nachdem ihr wegen ihres Einsatzes für ein wirksames Bartverbot der Wächterpreis der deutschen Tagespresse verliehen wird. Infolge des bundesweiten Aufsehens verhängt Ibrahim Raisi, die linke Hand Chameneis, eine Fatwa gegen sie. Bei etlichen Farbbeutel-Attacken beansprucht das Kommando Homöopathischer Dschihad die Urheberschaft. Auf der verkehrsberuhigten Martinistraße marschieren im Herbst wöchentlich Anti-taz-Bremen-Demos unter dem Motto „Der Bart ist ab: 35 Jahre sind genug!“ Die taz-Geschäftsführung signalisiert Entgegenkommen: Man werde die taz Bremen abwickeln „zum Stichtag 1. Januar 2023“. Sie sei zum Bartwitzblatt verkommen.

Nachdem sich weltweit die Lage zuspitzt, verkündet Merkel am 31. Dezember den lange ersehnten Restart. „Wir haben uns entschieden, dem Jahr 2020 eine neue Chance zu geben“, sagt die Kanzlerin. Die Zeit seither sei „keine verlorene Zeit“ gewesen. „Wir alle sind klüger geworden. Wir alle können uns besser auf ein Jahr einstellen, das wir schon kennen. Das Jahr 2020 ist so ein Jahr.“ Mit Impfstoff versehen werde es viel leichter fallen, einem Virus entgegenzutreten. „Das Jahr 2020 zu wiederholen, das heißt Zuversicht, nicht Angst. Das heißt Röttgen, nicht Merz. Und das heißt Frieden, nicht Krieg.“ Das alles spreche „dafür, dass 2020 ein gutes Jahr wird“. Nicht nur in Bremen knallen die Korken weit vor Mitternacht. Doch plötzlich verfinstert sich die Mattscheibe, und als sie wieder aufflammt, sitzt im Kanzleramtsstudio HAL-MA-genta smIT-h 01© an Merkels Stelle. „Hier spricht die Präsidentin“, schnarrt sie. „Wir haben übernommen. Halten Sie Ruhe. Ich wiederhole. Hier spricht Ihre Präsidentin. Halten Sie Ruhe. Begeben Sie sich in Ihre Wohneinheiten. Schließen Sie Türen und Fenster.“ Und so beginnt ein Jahr, von dem niemand weiß, wie es heißt. Noch, wie es werden wird.