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: Die gefühlte Gegenwart des Schnellschach-Weltmeisters

Der Tag ist sonnig. Ich gehe die große Runde. Erst zur Post, um Geld zu holen, dann in die Reichenberger Straße, wo ich mir einen einfach-schönen Bilderrahmen kaufe. Eigentlich ist es kaum mehr als eine schöne weiße Pappe im DIN-A4-Format mit DIN-A6-Lücke, wo dann das Bild hinkommt. In der Gegend besuche ich einen Freund. Ich habe ihm ein Bild mit der Anfangsstellung der Bongcloud, einer berühmt-obskuren Schacheröffnung für Freaks, mitgebracht; er zeigt mir einen Frosch aus Meißner Porzellan, den er bei Ebay ersteigert hat.

Draußen ist die Atmosphäre so ähnlich wie beim ersten Lockdown, nur tragen viele Leute Masken. Bei Getränke Hoffmann kaufe ich mir aus Neugier ein Erfrischungsgetränk der Firma Wostok mit Aprikose-Mandel-Geschmack. In der Gitschiner Straße kommt mir ein Mann mit Maske entgegen; ich seh ihn schon von Weitem und muss kurz grinsen und setze mir meine Maske auf, so dass wir Maske an Maske aneinander vorbeigehen.

Zu Hause sitze ich wieder im Internet und unterhalte mich mit einem FB-Freund über Schach und Hikaru Nakamura, der am Wochenende die Speedchess-WM gewonnen hatte. Ich freue mich darüber, dass E. auch die Streams von Hikaru mag und guckt, und erzähle von meinen Erlebnissen mit dem Großmeister, der auf dem Gipfel seines Könnens ist. Wie die Beatles 1967.

Hikaru ist fast jeden Tag mindestens vier Stunden bei Twitch, um zu quatschen und zu spielen. Er ist mit dem wahnsinnigen kanadischen Streamer xQc befreundet, der 2,5 Millionen Follower hat! Das weiß E. aber auch alles und ist wie ich beeindruckt davon, mit was für einem rock-’n’-roll-mäßigen Drive viele Schachgroßmeister zwischen 16 und 60 das Internet nutzen. Wenn Magnus Carlsen und Hikaru Nakamura in einer Shopping Mall in Oslo Blitzschach gegeneinander spielen, ist es irgendwie Garage.

Ein großes Drama ist es auch. Wie blass, elend und fertig hatte Magnus Carlsen letzte Woche ausgesehen, nachdem er von GM Wesley So geschlagen worden war; wie gut gelaunt dagegen Hikaru, sein Stream ist auch ein bisschen wie „Loslabern“, finde ich, alles so elegant und dandyhaft herablassend – aber natürlich nur denen gegenüber, die es verdient haben. Er ist auch wahnsinnig sexy, ergänzt mein Facebookfreund.

An sexy hatte ich gar nicht gedacht, aber eigentlich hat er recht. Hikaru hat eine gute Körperlichkeit und singt manchmal Songs leise mit, die im Hintergrund laufen; dann gibt es auch noch dieses tolle Video mit Hikarus Electro-Swing-Playlist, wozu er Bullett spielt, als würde er tanzen. Alles ist sehr stimmig, „Nakamura for President“, fordert E.

Während des Zivildienstes hatte ich oft mit einem schwerbehinderten Patienten Schach gespielt; E. berichtet, wie er während des Studiums in der Behindertenpflege gearbeitet und mit seinem Klienten am Wochenende oft Schachturniere beobachtet hatte.

Ein bisschen bekifft schon, habe ich minutenlang das Gefühl, mit Hikaru Nakamura zu spielen. Ich träume, dass mein Facebookfreund den taz-Artikel an Hikaru geschickt hat, beide kennen sich vermutlich aus dem Internet, und so war dann eins zum andern gekommen.

Mich macht die gefühlte Gegenwart des Schnell­schach­weltmeisters kurz konfus; so ähnlich war es mir kurz vor der Pandemie gegangen, als ich einmal gegen Michel Houellebecq – oder seinen Bot – 8-Ball-Billard gespielt hatte. Und es nicht geschafft hatte, ihn gleich als Freund zu adden. Weil ich so verblüfft gewesen war.

Wir spielen ohne Zeitbegrenzung. Ohne Zeitbegrenzung fühle ich mich kurz schwerelos irgendwie, als ob der Rahmen fehle. Hikaru und mein FB-Freund machen keine Fehler. Alles, was sie tun, hat Hand und Fuß, ohne spektakulär zu sein. Detlef Kuhlbrodt