Spätkauftipps der Kulturredaktion: Musik, last minute

Musik, Reiskocher, Zahnbürste und Glühweingewürze. Der Spätkauf der Kulturredaktion ist wie in jedem Jahr bis kurz vor der Bescherung noch offen.

Labelchef Martin Hossbach beim Ausliefern seiner Schallplatten Foto: Josie Snucky

Die gabben Schweisel

„O schaurig ist’s übers Moor zu gehen, / Wenn es wimmelt vom Heiderauche, / Sich wie Phantome die Dünste drehn / Und die Ranke häkelt am Strauche.“ Ich kann es immer noch nicht auswendig, das Gedicht „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff, das meine Schwester mir in einem Brief in die Klinik schickte, um mit dem Auswendiglernen die Schlaflosigkeit zu vertreiben. Aber ich weiß immer, wo der Zettel liegt, trotz allem Krusch in der Wohnung, weil mich die Geste so gefreut hat.

Spaß hatte ich auch mit einem „Advent“-Gedicht von Loriot, das am ersten Advent per Whatsapp von einer Freundin kam, in lieblicher Sprache eine Moritat vom blutigen Gattenmord im Försterhaus. Also denke ich, Gedichte verschicken als einkaufsfreier Geschenkersatz ist vielleicht gar nicht so doof. Wer das Handschriftliche liebt, nimmt dafür Papier zur Hand und kann noch dazu malen. Aber vorlesen im Zoom geht auch; das hat was von der Kinderzeit, als die Erwachsenen mit verhaltener Sorge beobachteten, wie man durch die Zeilen fand. Quellen gibt es zuhauf, im eigenen Regal und im Internet, und zu überlegen, was für wen passt, macht Freude. Natürlich geht auch selber dichten.

Zum Schluss noch eine konkrete Empfehlung, „Der Zipferlake“ aus „Alice hinter den Spiegeln“. Das beginnt so: „Verdaustig wars, und glasse Wieben / rotterten gorkicht im Gemank; / gar elump war der Pluckerwanck / und die gabben Schweisel frieben.“

Katrin Bettina Müller

Coronavirus fest im Griff

Dieses Jahr war ein Jahr des generalisierten Kontrollverlusts. Inklusive der Abschiede von Selbstverständlichkeiten, die es mit sich gebracht hat. Für all das, was 2020 kaputtgegangen ist, bietet das Coronavirus, in seinen grafischen Darstellungen jedenfalls, ein fast schon zu freundlich-rund geschlossenes, farbenfrohes Bild. Zu bedrohlich ist seine aggressive Art, sich zu verbreiten, zu unberechenbar sind die Folgen, wenn man sich infiziert haben sollte. Impfstoffe versprechen Hoffnung, erfordern aber wohl noch ein wenig Geduld, bis man selbst auch an der Reihe gewesen sein wird. Bis dahin heißt es durchhalten, nicht durchdrehen, was keine kleine Aufgabe zu sein scheint, und womöglich Wege finden, nicht die ganze Zeit an diesen kleinen, dabei höchst aufdringlichen Erdbewohner zu denken.

Das Coronavirus in den Griff kriegen, symbolisch und haptisch geht das am ehesten mit den auf dieser Seite abgebildeten kleinen Massagebällen aus rosarotem Silikon, deren lockere Noppenanordnung auffällig an die üblichen Visualisierungen von Sars-CoV-2 erinnert. Man kann das „Virus“ zwischen den Fingern isolieren und um sich selbst kreisen lassen. Ob im engen Familienkreis oder allein zu Haus mit Tendenz, dass einem die Decke auf den Kopf fällt: Hilft allemal zur Entspannung. Tim Caspar Boehme

Modell Scheherazade

Bereits nach dem ersten Lockdown vermeldeten amerikanische Studien, die Hälfte der Jugendlichen seien in eine Depression geraten. Nun, diese wollen wir unbedingt vermeiden. Bewegung hilft, ein neues Hobby auch. Zum Beispiel in der Küche. Sofern Sie in einer Stadt mit iranischen Lebensmittelgeschäft wohnen, schauen Sie dort mal nach einem persischen Reiskocher. Ich bevorzuge seit Jahren das Modell Scheherazade. Das Besondere an persischen Reiskochern ist, dass sich mit ihnen eine Kruste (Tadik) herstellen lässt. Sieht sehr gut aus und gelingt einfach. Man braucht guten Basmatireis, lässt ihn kurz quellen und spült die Stärke aus. Drei Kartoffeln schälen, Topf des Kochers einölen, mit Kartoffelscheiben auslegen. Reis hineingeben, knapp mit Wasser bedecken (nicht zu viel Wasser nehmen, der Reis soll am Ende körnig bleiben), wenig Salz. Deckel drauf, mittlere Einstellung wählen.

Das Gerät sollte sich am Ende selber ausstellen (dauert kaum länger als das Kochen im Topf). Eine Platte zum Herausstürzen des Reises nehmen. Sieht mit der Kruste dann aus wie ein Kuchen. Die Kartoffeln sind fast wie Pommes ­frites. Sehr gut gegen Depressionen. Passt hervorragend zu Gemüse (Ghaime) oder Gegrilltem. Und zu fast allen Gerichten, die Sie in der israelischen Küche und den Kochbüchern Ottolenghis finden. Andreas Fanizadeh

(Zahn-)Gesundheit

Ist sie gegeben, ist Gesundheit in diesem Jahr sicher das Geschenk, über das wir uns alle am meisten freuen. Sie überholt damit knapp die neue Playstation 5 als beliebtestes Präsent unter der Tanne. Moment, Gesundheit ist ja nun nichts, was sich verschenken lässt, werden Sie sagen. Ich halte dagegen: In diesem Jahr, wo alles so ungewöhnlich, so anders und verquer war, in dem man weniger Küsse und Umarmungen, dafür mehr Viren ausgetauscht hat, kann auch ein immaterieller Vermögenswert wie die Gesundheit verschenkt werden.

Im Grunde ist es doch ganz einfach: Coronamaßnahmen, -regulierungen und Bitten der Bundeskanzlerin, sich aus dem Wege zu gehen, bilden quasi die Basis des Gedankens. Je nach Interpretation und Umsetzung steigert sich der Wert des Geschenks. Die besten Dinge im Leben sind, so befand es schon der gute Einstein, diejenigen, die man nicht für Geld bekommt. Wem das nicht reicht als Geschenktipp, weil es ihm*ihr doch noch in den Fingern juckt, etwas Geld zum Jahresende hin in den Äther zu blasen, dem empfehle ich, was in jeder Gesundheitsecke einer Drogerie zu finden ist: eine elektrische Zahnbürste. Denn wenn Sie es, wie ich, wegen Corona (und einer ausgeprägten Angst vor Zahnarzt*ärztin) 2020 auch vermieden haben, sich um ihre medizinische Dentalversorgung zu bemühen, ist es spätestens zum Jahreswechsel an der Zeit, diese wieder in den Kanon der guten Vorsätze aufzunehmen.

Wollen Sie auch etwas Gutes für die Umwelt tun, empfehle ich ein Exemplar der Firma Happybrush – sie ist für einen Nachhaltigkeitspreis nominiert. Sophia Zessnik

Socken zum Flanieren

„Und wenn sich nichts Besseres bot, musste ein Spaziergang nach Meryton sie in den Morgenstunden unterhalten und ihnen für die Abendstunden Stoff zu Gesprächen liefern“, heißt es in Jane Austens Roman „Stolz und Vorurteil“ über die Bennet-Töchter. Nach diesem Jahr kann man das den fünf jungen Damen nur zu gut nachfühlen. Auf die harte Tour, mangels aufregenderer Alternativen, wurde das Spazierengehen im Frühling zur Freizeitbeschäftigung schlechthin: Allein oder zu zweit im sittsamen Abstand von anderthalb Metern dreht man seitdem endlose Runden, ganz so wie Elizabeth Bennet und ihre Schwestern dies zu tun pflegten. Mehrere Autor*innen zogen entsprechend schon während des ersten Lockdowns die naheliegenden Vergleiche zwischen den neuen Abstandsgeboten und den in den Romanen beschriebenen Lebenswelten, andere bastelten Memes, die Szenen aus Austen-Verfilmungen zur Illustration für die Regeln des Social Distancing benutzten.

Jetzt, kurz vor Weihnachten, passen die noch immer. Keine Ahnung, auf wie vielen solcher Spaziergänge ich in diesem Jahr war oder wie viele in den kommenden Monaten noch folgen werden oder wie das bei Ihnen und der zu beschenkenden Person ist. Besser, als zu Hause herumzusitzen, ist das regelkonforme Flanieren durch Wälder, Parks und Straßen allemal. Und weil das so ist, ist 2020 auch das Jahr der Ehrenrettung für die Socken als Weihnachtsgeschenk. Angesichts der Jahreszeit: der warmen Socken.

Im Drogeriemarkt gibt es diese mit ein bisschen Glück in gar nicht einmal so schlechter Auswahl. Jane Austen, die in diesem Monat 245 Jahre alt geworden wäre, hätte solche zwar vermutlich nicht getragen, aber man muss ja nicht alles so handhaben wie im 19. Jahrhundert. Beate Scheder

Die gute alte Manner-Waffel

Lassen Sie mal die Sache mit den Trüffeln, mit den Piemontkirschen und der albernen Bruchschokolade vom Sonntagsmarkt: Die landen doch eh nur, gemeinsam mit Weinbrandbohnen und anderen Irrtümern, in den Giftschränkchen ihrer Freunde – und zum nächsten Fest auf den Gabentischen mäßig geliebter Großonkel. Die wohl besten, passendsten, süßesten Süßigkeit, die man lieben Menschen im Zuhausebleibwinter 2020 schenken kann, sind ganz sicher jene, die sie an ferne Orte erinnern.

Vielleicht sind ihre Freunde ja italophil? Dann muss es nicht gleich Panettone sein, dieser Wichtigtuer unter den Festtagskuchen, dieses große Versprechen, das am Ende nie ganz so gut schmeckt, wie die glänzende Verpackung vermuten lässt – eine Packung Kekse von Mulino Bianco oder einer anderen Firma wird es auch tun. Die gibt es in Feinkostläden, und sie schmecken nicht nur nach Schokolade oder Apfel, sondern auch nach der angenehmen Aufregung, die einen in Supermärkten im Urlaub überkommt: So viele unbekannte, aber alltägliche Dinge, Marken und Gerüche!

Mag sein, dass italienische, polnische oder türkische Kekse, die es oft sogar im Spätkauf um die Ecke gibt, für manche Freunde schlicht nach zu Hause schmecken, für andere nach Proviant auf Busreisen durchs Hinterland, nach vorbeifliegenden Fernstraßen, Tankstellen bei Nacht und fremde Landschaften im Morgenlicht. Wieder anderen sind sie möglicherweise egal. Vielleicht wecken bei diesen Freunden ja die guten, alten Manner-Waffeln Erinnerungen an frühe große Fahrten, an den Geruch von Salamistullen und hartgekochten Eiern, vor Abreise verpackt von den Eltern, und an die vollge­krümelte Rücksitzbank.

Ein angenehmer Nebeneffekt solcher Geschenke: Sie können über Reisen und Träume, über Vergangenes und Ausstehendes reden, ohne sich eine Slideshow von 267 Fotos anschauen zu müssen. Julia Lorenz

Platten vom Chef geliefert

Manchmal hat das ja doch was für sich, in Berlin zu leben, sogar in Coronazeiten – obwohl, wie man zugeben muss, sich das kulturelle Programm in Berlin 2020 nur unwesentlich von dem in, sagen wir, Tübingen unterschieden hat: Ein Großteil der geilen Berliner Konzerte fiel aus, und andererseits konnte man sich in Tübingen auf der Quarantänecouch dieselben Kulturstreams reinziehen wie in Berlin. Nun kurz vor Weihnachten spielt Berlin aber doch noch mal seine Trümpfe aus der kulturellen Rückhand aus: Dort liefern gleich zwei Indie-Plattenlabelchefs Musik noch selbst aus, last minute.

Wohl gibt es auch in Tübingen die Buchhandlung Osiander mit ihren zahlreichen Filialen in Südwestdeutschland, und auch da liefern einige nun im Lockdown per Fahrrad. Aber die Chefs selbst? Die Berliner Plattenbosse sind nun gar nicht hoch zu Rosse: Martin Hossbach liefert innerhalb ganz Berlins mit seinem putzigen Klapprad kontaktlos Schallplatten des praktischerweise nach ihm benannten Labels aus, wenn man bis Montag (21. 12.), 20 Uhr bestellt (bike@martinhossbach.com). Besonders empfohlen sei hier das Album „Alchemy“ der Songwriterin Tara Nome Doyle, das 2020 auf vielen Jahresbestenlisten steht – und das man sich handsignieren lassen kann. Sogar zu Fuß ausliefern will Anton Teichmann vom Label Mansions & Millions in Neukölln, Kreuzberg und Alt-Treptow. Nach Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg kommt er aber auch.

Bestellt werden kann die Weihnachtslieferung via info@mansions­and­millions.de sogar noch bis Mittwoch (23. 12.). Empfehlen wollen wir hier besonders das Debüt von Better Person, dem „polnischen George Michael“ – nicht bloß, weil ihn Corona extrahart getroffen hat und weil er sich für Queer-Rechte in Polen starkmacht, sondern vor allem, weil das Album wahnsinnig schön tröstet. Stefan Hochgesand

Der WLAN-Verstärker

Vereinzelung. Isolation. Die Leute reden nicht mehr miteinander. Die Kommunikation stirbt aus. So lauteten die kulturkritischen Topoi, als die elektronischen Geräte kleiner und mobiler wurden. Jugendliche mit Walkman und Kopfhörern in der Öffentlichkeit – besorgten Zeitdiagnostikern galt das als Ausdruck von Entsolidarisierung und Seinsvergessenheit. Als würden zombiehafte Monaden eine bis dahin funktionierende Kommunikationsgemeinschaft unterwandern. Was dann passierte: Vor allem die Kommunikationsbranche explodierte. Konzerne, die nichts anderes tun, als Kommunikation zu organisieren (und auszubeuten), lösten die Stahl-, Öl- und Autoindus­trie ab und wurden zu den mächtigsten Firmen der Welt (nur das Eingeständnis der Kulturkritiker, dass sie sich mit ihren Untergangsszenarios geirrt haben, blieb aus).

Und wo wären wir heute, in diesem für analoge Begegnungen so schwierigen Coronajahr, ohne unsere digitalen Endgeräte? Nicht auszudenken. Sogar als mögliche Weihnachtsgeschenke haben Handys, Laptops und Tablets längst ihren letzten Reiz verloren. Zu normal geworden. Ein neues Mobiltelefon hat, auch wenn die Werbung sich noch so anstrengt, rote Wangen und Aufregung zu simulieren, längst so heiß wie neue Wollsocken oder ein neuer Schlips.

Eine Ausnahme gibt es allerdings: WLAN-Verstärker. Bei den vielen Team-Sitzungen, Zoom-Konferenzen und Skype-Weinverabredungen ist es einfach nervig, wenn man sich nicht in die hintere Ecke der Wohnung zurückziehen kann, weil der WLAN-Router nun mal im Wohnzimmer steht, wo aber gerade die Kinder fangen spielen. Ehrlich, verschenken Sie dieses Jahr profane WLAN-Verstärker, die gibt es ab 70 Euro, installieren Sie sie, und Sie werden in glückliche Gesichter sehen. Das ist schon okay. Ihre Liebe können Sie ja anders signalisieren, etwa durch ein zugewandtes Gespräch. Dirk Knipphals

Glühwein ist eine Rakete

Ich hasse Weihnachtsmärkte. Der Verzehr von Glühwein ließ mich immer kalt. Aufgrund der Umstände blicke ich heute aber anders auf alkoholische Heißgetränke. Vor zwei Wochen braute ich zum ersten Mal Glühwein selbst. Erstens muss man dafür wissen, dass er nicht kochen darf, aber das kann man sich ja auch denken. Zweitens machen die Gewürze den Geschmack. Ich entschied mich für Nelke, Sternanis, Zimt und Kardamom. (Mangels Orangen schnitt ich Zitronenscheiben, dazu ein Löffel Honig.)

Kollege Helmut Höge wies mich darauf hin, dass alle diese Gewürze eine blutige Kolonialgeschichte haben. Die Imperien der Niederländer und Briten basierten auch auf ihren Gewürzmonopolen. Der indische Bundesstaat Kerala, wo der Kardamom, ein Ingwergewächs, ursprünglich herkommt, wurde nach der Unabhängigkeit von der Communist Party of India regiert, die den Staat höchst erfolgreich entwickelte, was man unter anderem an der Alphabetisierungsrate und der Emanzipation der Frauen sehen kann, sagt Helmut. Abgesehen von ihrer politischen Geschichte und ihren kulinarischen Qualitäten sind Gewürze Drogen. Sternanis ist gut gegen Blähungen und gilt als psychoaktiv, Kardamom wirkt fördernd auf die Speichel-, Magen- und Gallensaftsekretion, die Araber mischen ihn dem Kaffee bei.

Nachdem ich einen Nachmittag lang Glühwein getrunken hatte, fühlte ich mich tags darauf, als sei ich im Berghain gewesen. Wer seine Mitmenschen mit Glühwein beschenkt, entzündet ein Licht, möglicherweise zündet er aber auch eine Rakete. Prosit! Ulrich Gutmair

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