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: Wie es früher war

Anfang Dezember wurde es kalt. Also nicht so richtig winterkalt, aber so, dass Mütze, Schal und Handschuhe draußen angebracht sind. Und warme Jacken. Darum habe ich die Wintersachen vom Schrank geholt und die Sommersachen weggeräumt. Und wie jedes Jahr habe ich beim ersten Tragen der warmen Sachen in den Jackentaschen Reste vom letzten Winter gefunden. Manchmal sind das einfach zerknüllte Taschentücher. Oder das Papier von Hustenbonbons. Dieses Mal war es etwas anderes, was mich ziemlich aus der Fassung gebracht hat: zwei Eintrittskarten der Berliner Bäderbetriebe vom 9. und 16. Februar 2020. Das waren die beiden letzten meiner bis dahin wöchentlichen Besuche im Stadtbad Mitte, dann wurde mir das zu heikel. Jetzt wirken sie wie ein Gruß aus einem anderen Leben.

Man gewöhnt sich ja an vieles, und wenn man nicht groß drüber nachdenkt, ist das auch okay. Aber hier liegen sie auf meinem Schreibtisch und vergrößern die Sehnsucht nach dem „alten“ Leben vor Corona. Ich bin nicht so der Ausgehtyp, mir fehlen weder Kneipen noch Clubs, keine Volksfeste und keine Weihnachtsmärkte. Doch mit den Schwimmbad­tickets kam die Erinnerung an das, was ich „früher“ gern getan habe. In die Sauna gehen – Aerosole! Zum Tanzkurs – viel zu eng! Mit der Freundin Sushi essen in der Mittagspause. Mit fremden Menschen an einem Tisch, weil es so voll war. Mit Menschen aus anderen Haushalten, wie man das jetzt formulieren würde.

Die Freundin, die früher täglich aus Leipzig zur Arbeit nach Berlin pendelte, sucht jetzt einen Job in Sachsen. Wir telefonieren ab und zu, während wir uns früher einfach in echt gegenübersaßen. Manchmal brachte sie mir früher eine „Leipziger Lerche“ mit nach Berlin. So was fehlt bei telefonischen Kontakten.

Ein vorsichtiger Blick

Mit Beginn der Adventszeit haben wir dann auch mal vorsichtig in die Kalender vom letzten Jahr geschaut. „Wir waren in der Schaubühne“, sagt mein Mann verwundert. Die Schaubühne, ach ja. Da hab ich noch im Januar zwei Stunden nach Tickets für eins der Stücke mit Lars Eidinger angestanden, die immer so schnell ausverkauft waren. Mit fremden Menschen in einer Schlange auf engstem Raum. Undenkbar. In meinem Schreibtisch liegen auch noch zwei Karten für die Volksbühne für den 15. März. Wir dachten, wir tauschen die einfach um für später. Hahaha!

Im Kino waren wir zuletzt vor einem Jahr, zu Weihnachten. Für die Open-Air-Kinos im Sommer musste man ja Plätze reservieren. Aber da war ich schon so damit beschäftigt, mich in die Slots der Berliner Freibäder einzubuchen, dass ich keine Lust auf noch mehr Freizeitplanung hatte. Vermutlich dachte ich sogar, im Winter ginge es wieder los mit Kino. Absurd! Sehr selten sehe ich auch mal zu Hause einen Film auf meinem Laptop. Das ist jedes Mal ein echtes Erlebnis. Neulich habe ich dabei sogar geweint, was ich im Kino nie tun würde.

Man muss nach vorne schauen. Und sich neue Freizeitbeschäftigungen suchen. Ich lese jetzt Bücher. Total verwegen. Außerdem korrespondiere ich per Mail mit Freundinnen in anderen Städten. Und fotografiere Alltagsskurrilitäten, die ich auf Instagram poste.

Lesen, schreiben, fotografieren: Hobbytechnisch bin ich jetzt ungefähr wieder da, wo ich vor etwa 30 Jahren aufgehört habe. Gaby Coldewey