Von dystopischen Formen und utopischen Ideen

Das Solistenensemble für Neue Musik LUX:NM lädt Sonntagabend zur Musikperformance „Epilog: Abriss“ ein – ins Ballhaus Ost. Leider nur als Livestream

Szenenfoto aus dem Trailer der Licht- und Videokünst­lerin Rosa Wernecke zur Musikperformance „Epilog: Abriss“ von LUX:NM Foto: Wernecke Horwitz

Von Robert Mießner

Ein menschenleeres Waldstück, so scheint es: Glockenklänge in verschiedenen Höhen und Tiefen überlagern sich; durch die Baumkronen fällt Licht. In dem betörend langsamen und anderthalb Minuten kurzen Schwarz-Weiß-Trailer zur Musikperformance „Epilog: Abriss“ des Solistenensembles für Neue Musik LUX:NM treten dann doch noch Menschen auf, wobei: Zuerst sind sie zu hören, als stünden sie im Rücken des Betrachters. Sie husten und sie reden, Letzteres so sehr, dass eine ganze Menge ihrer Art vermutet werden darf. Zu sehen sind aber Einzelwesen, die hinter den Baumstämmen hervorlugen, sie umfassen und Waldgeistern gleich das Gehölz durchstreifen.

Wesentlich mehr verrät der Trailer der Licht- und Videokünstlerin Rosa Wernecke nicht, außer noch den Komponisten der Produktion, Andrej Koroliov, und den Choreografen Heinrich Horwitz. Dafür ist mit dem zeitlos romantischen Clip ein Vergänglichkeitston angestimmt, den die Pressemitteilung der Produktion erst mal ausbaut: „Epilog: Abriss“ führe „uns in einen Raum, den wir im Leben nie sehen werden“, heißt es da. Einer, der „nach unserer Zeit kommt, der sich mit dem Versuch beschäftigt, sich von seinem Besitz, dem Leben und dessen Umständen zu trennen und der Kunst zu verschreiben“.

LUX:NM feiert Zehnjähriges

Es sollte dann doch nicht unerwähnt bleiben, dass die Performance Teil der Geburtstagsfeierlichkeiten von LUX:NM ist. Das mehrfach preisgekrönte Ensemble hat sich 2010 gegründet und ist mit Kammermusikkonzerten, Alben, Installationen und Musiktheater hervorgetreten. Den Kernsound von LUX:NM machen Saxofon, Akkordeon, Posaune, Klavier, Violoncello und Elektronik aus, dazu kommen Gastmusiker.

Dass LUX:NM in ihrer neuen Produktion einen dunklen Kosmos auffächern wollen, ist nicht gänzlich überraschend und muss nicht nur zeitgebunden sein. Im vorigen Jahr sind die Musiker unter dem Titel „Dark Lux“ aufgetreten. Gemeinsam mit dem Komponisten Gordon Kampe, der Hörspielautorin Sarah Trilsch, dem bildenden Künstler Florian Japp und dem Sounddesigner Jan Brauer begaben sie sich im Ballhaus Ost an der Pappelallee in Prenzlauer Berg unverzagt auf die lichtabgewandte Seite.

Der Ort war und ist prädestiniert für Unternehmungen dieser Art. Die Ballhaus-Bühne ist die ehemalige Feierhalle des unmittelbar benachbarten Friedhofs. Die Freireligiöse Gemeinde Berlins hat hier seit 1847 Menschen bestattet, von denen nicht wenige mit ihrer Zeit über Kreuz lagen.

Da ist zum Beispiel der Schuhmacher Theodor Metzner, der zum Politiker und Mitbegründer der Sozialdemokratie wurde. Sein Zeitgenosse Heinrich Roller, Sozialdemokrat auch er, ist als Mitbegründer der Stenografie in die Geschichte eingegangen und liegt neben dem Ballhaus. 1894 sollen 40.000 Menschen den Trauerzug für die Gewerkschafterin und Frauenrechtlerin Agnes Wabnitz begleitet haben. Als politische Rednerin war sie in die Mühlen der Justiz geraten und hatte 1894 nach Zwangsernährung, Irrenanstalt und Entmündigung zu Zyankali gegriffen. Ihr Friedhof ist jetzt ein Museumspark, an seinem Tor steht das Motto:

„Schafft hier das Leben / gut und schön, / kein Jenseits ist, / kein Aufersteh’n.“

In der Ankündigung von „Epilog: Abriss“ fällt hingegen noch ein Satz, bei dem man einen anderen Geist des 19. Jahrhunderts anrufen möchte, den des Philosophen Max Stirner. Was hätte der Urheber von „Ich hab’ mein Sach’ auf nichts gestellt“ pariert, wäre ihm Folgendes in Aussicht gestellt worden?

Epilog: Abriss soll mehr einen Zustand evozieren, denn einen zeitlich begrenzten Abend, die vielen dystopischen Formen der Gegenwart in eine utopische Idee von Zukunft verwandeln“, heißt es in der Pressemitteilung: „Dabei werden verschiedene Revolutionen durchlaufen, in denen die Zuschauer*innen gemeinsam mit den Musiker*innen nach und nach die Kontrolle verlieren, sich mehr verabschieden müssen, um sich in eine morphende-transformierende Masse zu verwandeln und den Blick zu öffnen, für die Ungewissheit der Zukunft.“

Stirner, der immerhin eine kritische Masse hinterlassen hat, liegt allerdings auf einem anderen Friedhof, auf dem der Sophiengemeinde in Mitte.

Livestream aus dem Ballhaus Ost am Sonntag ab 19 Uhr hier: www.luxnewmusic.de

Mehr Kultur: tazplan 50,