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Mit Auge, Heft und Stift durch die Natur

Pflanzenbeobachter gesucht: Ehrenamtliche notieren für den Deutschen Wetterdienst den Beginn der Blüte und vieles mehr. Das Stichwort lautet Phänologie

Statt „Piepmatz auf Ast: 1“ schreibe man: 1 Blaumeise auf Forsythie Foto: Burkhard Sauskojus/imageBROKER/imago-images

Von Joachim Göres

23. Oktober: Süßkirsche Blattverfärbung (die Hälfte der Blätter sind verfärbt). 24. Oktober: Birke Blattfall (der Baum hat die Hälfte seiner Blätter verloren).“

Das sind die letzten Eintragungen von Gabriele Ellermann in ihrem besonderen Tagebuch – für den Deutschen Wetterdienst (DWD) notiert die 73-Jährige das ganze Jahr über in einem kleinen Heft, wann Wildpflanzen und Gehölze zu blühen beginnen, wie sich landwirtschaftliche Kulturpflanzen entwickeln, ab wann Obstfrüchte gepflückt werden können. Dafür nimmt sie in einem Umkreis von zwei Kilometern von ihrer Wohnung am Stadtrand von Celle in Niedersachsen die Pflanzenwelt unter die Lupe – als eine von rund 1.100 ehrenamtlichen Pflanzenbeobachterinnen und -beobachtern in ganz Deutschland.

Am Ende des Jahres schickt sie die gesammelten Informationen an die DWD-Zentrale nach Offenbach. Außerdem ist sie auch noch sogenannte Sofortmelderin und liefert aktuelle Daten zu rund 80 Fragen – zum Beispiel, wann die Ernte von Hafer, Wintergerste, Winterraps und Winterweizen startet. Bei der Forsythie und vielen anderen Arten ist darauf zu achten, wann die ersten Blüten sich öffnen. Bei Birke, Erle, Hasel, Beifuß und Esche ist entscheidend, wann das Stäuben beginnt.

Der Deutsche Wetterdienst ist überall zwischen Flensburg und Passau auf der Suche nach neuen Pflanzenbeobachtern. Gefragt sind Frauen und Männer derzeit konkret an mehr als 250 Standorten, unter anderem in so klangvollen Orten wie Suhlendorf (Niedersachsen), Hauswurz (Hessen), Frankenstein (Sachsen) und Ochsenhausen (Baden-Württemberg), aber auch in Städten wie Schleswig, Lüdenscheid und Tübingen.

Näheres unter Telefon: 069/80622946 oder

www.dwd.de/pflanzenbeobachter

„Diese Angaben sind wichtig für die Pollenwarnungen und die Landwirtschaft“, sagt Ellermann und fügt hinzu: „Früher wurde das per Post übermittelt, heute geht das per Computer alles viel schneller.“ Knappe Angaben sind gefragt: BV bedeutet Blattverfärbung, AB steht für Vollblüte, EB heißt Ende der Blüte. Zusätzlich können Notizen gemacht werden – hinter „Rosskastanie BV“ kann erläuternd „mäßiger Befall durch Rosskastanienminiermotte“ angemerkt werden.

Im April und Mai ist sie fast täglich zu Fuß oder mit dem Fahrrad in ihrer Umgebung unterwegs, um die Entwicklung der Natur schriftlich festzuhalten. Dabei steuert sie immer denselben Kirschbaum oder dieselbe Stachelbeere an, sodass die Angaben über einen großen Zeitraum miteinander verglichen werden können. Die lange von ihr inspizierte Europäische Lärche wurde vor einiger Zeit gefällt – notgedrungen notiert sie seitdem an einer anderen Lärche den Beginn der Nadelentfaltung, der herbstlichen Nadelverfärbung und des Nadelfalls. Zum Jahresende gibt es für Ellermann nichts zu notieren, doch ab Januar wird sie wieder vermehrt bei Hasel und Erle darauf achten, wann der Beginn des Stäubens einsetzt.

1988 wurde die ausgebildete Biologielehrerin von einer Freundin gefragt, ob sie nicht Lust habe, die Aufgabe als phänologische Beobachterin zu übernehmen. „Wegen meines Interesses an der Botanik und weil ich sowieso gerne im Freien unterwegs bin, habe ich nicht lange überlegt“, betont die naturverbundene Frau, die mitunter auch ihren Mann bei gemeinsamen Spaziergängen für phänologische Beobachtungen einsetzt.

Die Phänologie beschreibt im Jahresverlauf wiederkehrende Erscheinungen wie das Aufblühen einer Pflanze. Ellermann und ihre Mitstreiter notieren bis zu 168 phänologische Phasen an 48 Pflanzenarten. Dazu gehören landwirtschaftliche Kulturpflanzen wie Hafer, Gerste, Raps, Roggen und Weizen sowie Wildpflanzen wie Wiesen-Knäuelgras, Herbstzeitlose, Huflattich und Löwenzahn. Vieles ist zu beachten: So soll der Löwenzahn nicht aus der Hausritze stammen, sondern frei auf der Wiese wachsen. „Man braucht dafür kein Studium, sollte aber an Natur interessiert und gerne draußen sein. Und zuverlässig“, sagt sie. DWD-Informationsmaterial hilft dabei, ähnliche Pflanzen voneinander zu unterscheiden, damit es zu keinen Verwechslungen kommt.

Mit Interesse an der Botanik gerne im Freien unterwegs sein

Im Phänologie-Journal werden die Ehrenamtlichen über aktuelle Fragen zu Wetter und Klima informiert. Ihre Aufzeichnungen belegen, dass sich durch die Zunahme der Temperaturen die Vegetationsperiode verlängert hat und damit auch die Pollensaison früher beginnt und länger dauert. Für alle Klimawandelskeptiker betonen die DWD-Experten mit Hinweis auf den Hitzerekord am 25. Juli 2019 im emsländischen Lingen: „Spätestens seit diesem Zeitpunkt dürfte jedem, der Interesse an Wetter und Klima hat, klar geworden sein, dass sich etwas verändert hat.“

Daten pflanzenphänologischer Beobachtungen zählen zu den wertvollsten Anzeigern von Veränderungen in den Umweltbedingungen und werden vom DWD seit 1950 systematisch erhoben. „Einige sind schon seit 60 Jahren als Beobachter dabei“, berichtet Anja Engels, die beim Deutschen Wetterdienst die Ehrenamtlichen betreut. Sie spricht von einem Nachwuchsproblem – die meisten sind im Rentenalter, nicht wenige 80 Jahre und älter. Früher gab es mal 6.500 Stationen, heute ist der DWD froh, wenn er das arg geschrumpfte Beobachtungsnetz auf Dauer halten kann. Jährlich rund 200 Stunden sollte man für die Tätigkeit einkalkulieren. „Man darf aber gerne im Sommer in den Urlaub fahren“, beruhigt Engels. Ellermann: „Das ist ein schönes Hobby, das ich so lange wie möglich ausüben will.“