Verkauefer von Zuckerherzen

Bernhard junior hilft aus,wo er kann Foto: Manuel Stark

Veranstaltungsbranche während Corona:Sorgen statt Süßigkeiten

Eigentlich wäre jetzt die Zeit von Weihnachtsmärkten, doch die sind wegen Corona nicht möglich. Das trifft Schausteller wie das Ehepaar Fuchs hart.

5.12.2020, 18:58  Uhr

Andrea und Bernhard Fuchs verkaufen Lebensfreude. Eigentlich. Jedes Jahr drängen sich ihre Fahrgeschäfte für ein paar Tage zwischen die Fachwerkhäuser von Rattelsdorf, einer Gemeinde bei Bamberg in Oberfranken. Dann schieben sich Besucher vorbei an Autoscooter, Schiffschaukel und Losbude. Erwachsene schunkeln, und Kinder toben mit von Zuckerwatte verklebten Mündern durch Karussellgeschrei und Frittiergeruch.

Im Coronajahr jedoch war nur wenig Freude zu verkaufen. Im Sommer geht ein bisschen was, da wäscht der Regen den Popcorngeruch aus der Luft, in den Pfützen spiegeln sich die zwei Wagen, die die Fuchsens auf dem Kirchweihfest von Rattelsdorf aufbauen durften; Süßigkeiten- und Crêpeswagen.

In einem wartet Andrea Fuchs, hochgesteckte Haare, rote Wangen; eine kräftige Frau, die die Leere zwischen zwei Sätzen oft mit Lachen füllt und andere wissen lässt, was sie will: Ihr Mann soll den Stand nebenan regeln, ihr Sohn Mandeln brennen – sieben Tüten liegen noch in der Auslage. Andrea Fuchs ordnet sie neu, nicht zum ersten Mal an diesem Tag, sie steht schon einige Stunden hier. Bisher kamen acht Kunden.

Seit 30 Jahren kommen An­drea und Bernhard Fuchs, beide 51, nach Rattelsdorf. Die Leute hier kennen sie persönlich, manche seit ihrer Kindheit. Eine Frau schiebt ihren Kinderwagen an den Stand. „Dass du geheiratet hast, wusste ich, aber das Baby?“, fragt Andrea Fuchs. 
„Eine Rosa.“ „Schöner Name.“

Bestellung: Kokoswürfel, Popcorn und gebrannte Mandeln; dazu ein wenig „Was hast du so gemacht, wie geht’s?“.

„Halt die Ohren steif“, sagt die Frau zum Abschied und schiebt ihr Kind weiter. 
„Bisschen halten wir noch durch.“

Andrea Fuchs lacht zuerst, dann kommen doch ein paar Tränen. Sie dreht sich weg.

5.300 Schaustellerfirmen bieten in Deutschland Arbeit für knapp 32.000 Menschen. Die Fuchsens ziehen als Familienbetrieb in fünfter Generation durch Bayern und Baden-Würt­tem­berg. Zumindest täten sie das in einem normalen Jahr. Aber seit März sind Volksfeste verboten; wann sie wieder stattfinden dürfen, weiß niemand.

Viele aus der Branche hofften auf die Weihnachtsmärkte. Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler und stellvertretender Ministerpräsident Bayerns, versprach im Juli noch: Die Weihnachtsmärkte finden statt. Schausteller seien systemrelevant, denn Lebensfreude gehöre in Bayern zum System. Doch mit der zweiten Welle im Herbst werden auch die Weihnachtsmärkte nach und nach abgesagt. Statt unter Tannenbäumen stehen die Fuchsens jetzt in einem Möbelhaus, verkaufen dort ihre Ware.

Und für 2021 steht bereits fest: Das Deutsche Turnfest in Leipzig entfällt, der Hamburger Hafengeburtstag, die Rosenmontagsumzüge zum Karneval in Köln, alles große Plätze für Schausteller. Dass es auch kleinere Feste trifft, die für Fuchsens wichtig sind, ist wahrscheinlich.

In einem gewöhnlichen Jahr stehen Schausteller an rund 150 Tagen auf Festplätzen, 2020 bleiben für die meisten Betriebe weniger als ein Dutzend.

Sogar das Pharmaunternehmen Biontech, das gemeinsam mit seinem US-amerikanischen Partner Pfizer die Zulassung für einen Corona-Impfstoff beantragt hat, rechnet erst für Winter 2021 mit einer kompletten Rückkehr zu Normalität. Wie lange kann ein Gewerbe, wie lange können Menschen durchhalten, denen man keine Per­spek­tive lässt?

Statt blinkender Lichter und Schlagermusik bedeutete 2020: zwei Stände auf leerem Pflaster

Andrea Fuchs füllt gebrannte Mandeln in Papiertüten, legt sie in die Auslage, sortiert wieder neu. Dann nestelt sie an den Beuteln mit Popcorn. „Das Weinen hätte nicht sein dürfen. Als Schausteller verkaufen wir ein Lebensgefühl“, sagt sie. „Wir stellen die Freude am Leben zur Schau. Tränen gehören nicht ins Geschäft.“

Es gehe um die Stimmung: Der Geruch von Bratwürsten, die schunkelnden Besucher, die Musik, das wirke nur zusammen. Doch statt blinkender Lichter, Riesenplüschtieren und Schlagermusik bedeutete 2020: zwei Stände auf leerem Pflaster im Juli. Statt jedes Wochenende auf einem anderen Platz zu verbringen: Nachmittage zu Hause.

Zu Hause, das ist während der Saison eine Lagerhalle in einem Industriegebiet, zehn Autominuten von Rattelsdorf entfernt. Jahrelang haben sie auf diese Investition hin gespart: ein eingezäunter Schotterplatz, der auf einer Seite an ein Kornfeld grenzt, an der anderen an einen Recyclinghof. Hinter dem Tor ein paar Holzlatten, Plastikrohre und eine Palette mit einem von Rost zerfressenen Ölfass, aus dem Unkraut blüht.

Während der Feste schlafen sie in einem Wohnwagen in der Halle. Vor der Wagentür stehen ein eingeschweißter 11-Kilo-Block Cashewkerne, ein Campingstuhl und ein Anhänger mit drei Schlafkabinen. Normalerweise helfen ihnen Saisonkräfte aus Polen und Rumänien, manche seit zwölf Jahren. Seit März sind die Kabinen leer.

Ein Mann steht in einem Wagen auf einem Kirchweihfest

Zwei Wagen auf einem Kirchweihfest im Juli, mehr war nicht erlaubt Foto: Manuel Stark

Am Ende der Halle führt eine Metalltreppe in einen wenig möblierten Raum mit einem Wandkalender, auf dem Festtermine markiert sind. Auf einem Sofa sitzt Bernhard Fuchs mit geröteten Augen in einem blauen Poloshirt, das von den Schultern hängt und am Bauch spannt. Eigentlich ist er ein Macher, er mag es, wenn er die Dinge angehen kann und auch mal tüfteln muss, um ein Pro­blem zu lösen. Über die Jahre hat er sich einen Wissensschatz angeeignet, wie man Reifen flickt und Metall lackiert, wie man Strom verlegt und einen bockenden Motor zum Schnurren bringt.

Andrea Fuchs sitzt am Schreibtisch, gestreckter Rücken, offene Körpersprache und wacher Blick. Ihre Stimme ist ein unschuldiges Poltern, nie laut, weil sie sich Gehör verschaffen müsste, sondern weil sie einfach so ist.

 Sie erinnert sich, die Familie habe am Anfang alles nicht so ernst genommen. Die Pandemie kam ja schleichend, wie eine Welle, die in der Ferne noch klein wirkt und dann immer größer wird, je näher sie sich auf einen zuwalzt.


Ende Januar infizierte sich der erste Deutsche, zweieinhalb Wochen später meldete Frankreich den ersten Toten. Da dachte das Paar noch: Alles nicht so schlimm, das dauert vielleicht vier, fünf Wochen, wie damals die Vogelgrippe. Sie seien optimistisch gewesen, die Saison starte sowieso erst im Mai so richtig. Wie alle Schausteller sind sie daran gewöhnt, in den Monaten zwischen Weihnachtsmärkten und Frühlingsfesten keine Einnahmen zu haben. Dafür haben sie ein Polster.

Ende Februar isolierte Italien erste Städte, im März sagte Leipzig die Buchmesse ab. Die Fuchsens nutzten den Anfang des Jahres wie immer: Er prüfte, ob Rost sich in Fahrge­schäfte frisst, wo Lack abblät­tert, welche Schrauben locker sitzen. Sie bestellte neue Ware: Lebkuchenherzen ­verschiedener Größen, mehrere Sorten ­Gummibärchen, ein paar Säcke Mandeln und Nutella fürs ganze Jahr, 30 Paletten – Ende November ist das Haltbarkeitsdatum ­abgelaufen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Wie viel sie jährlich in Vorleistung geht, weiß Andrea Fuchs nicht, sagt sie, 15.000 Euro seien schnell weg. Ein Sack Mandeln koste 250, ein Block Cashewkerne 130 Euro. „Hätte ich das mit Corona gewusst, ich hätte nie so zugeschlagen.“

Ende März wurde der erste Frühjahrsmarkt in der Region abgesagt. Erst da wurde den beiden das Ausmaß der Pandemie bewusst: kein Umsatz. Bis zur Mitte des Jahres würden sie sich irgendwie durchhangeln müssen. Aber wie sollte es dann weitergehen, mit den Raten für die Lagerhalle, Versicherungen und den neuen Crêpeswagen?

Andrea Fuchs rückt auf ihrem Stuhl hin und her. „Wir sind viel gewohnt, bei uns gibt es immer irgendeinen Scheiß“, sagt sie. Mal wurde ein Fest wegen zu hoher Kosten einfach gestrichen, mal fiel die Hydraulik des Autoscooters aus. Als Schausteller muss man flexibel sein, darin haben sie mehr als 30 Jahre Übung. Aber wie flexibel kann man sein, wird die Welt heimgesucht von einer Pandemie?

 Erst mal in Bewegung bleiben, eine Lösung suchen, Schritt für Schritt. Heißt: Die eigentlichen Feste gehen nicht, also müssen neue Plätze her.

Etwa das örtliche Freibad. Dort stellte das Paar seinen Süßwarenwagen an manchen Nachmittagen hin, an anderen verkaufte es direkt vom Hof im Industriegebiet. Der Besitzer einer Brauerei lud sie fürs Wochenende in seinen Biergarten, er wollte keine Pacht und noch nicht einmal Geld für Strom und Wasser. „Der Zusammenhalt war herzerwärmend“, sagt Andrea Fuchs. „Zu wissen, da helfen einem Leute, wenn es drauf ankommt, tat gut.“

Finanziell lohnte sich der Aufwand nicht, das merkten Fuchsens schon nach den ersten Abenden. „Aber gar nichts zu machen wäre noch schlimmer gewesen“, sagt Andrea Fuchs und erzählt, wie die Raten für die Halle irgendwann doch drückten.

Durch die staatliche Überbrückungshilfe bekommen sie bis zu 90 Prozent ihrer Fixkosten erstattet, neben der Hallenmiete also so etwas wie Versicherungen oder Ausgaben für notwendige Wartungen. Bleiben 10 Prozent, die sie selbst tragen müssen. Doch für sie als Selbstständige bleibt der Lohn so lange aus, wie es keine Feste gibt.

Dazu kommen die laufenden Kosten für Wasser und Strom für zu Hause, Essen und Trinken. Dafür gibt es keine Zuschüsse. Lebenshaltungskosten, private Mieten oder ein Eigenlohn als Unternehmer sind nicht förderfähig, heißt es von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft.

Schon mehrmals suchte Andrea Fuchs nach Möglichkeiten, auch ohne Volksfest Geld zu verdienen. Zuerst heuerte sie bei einer Zeitarbeitsfirma an, eingesetzt wurde sie in der Erstaufnahme-Einrichtung für Asylbewerber in Bamberg, um Essen auszugeben. Von 6 Uhr bis mittags verpackte sie Mahlzeiten und putzte die Küche. Die meisten Menschen in dieser Einrichtung warten darauf, abgeschoben zu werden. Immer wieder seien Leute zu ihr pampig, einige übergriffig gewesen. Sie kündigte.

Andrea Fuchs

Andrea Fuchs Foto: Manuel Stark

Der nächste Anlauf: Plüschtiere aus der Losbude auf eBay, mit Foto, Größe und Preis. Vielleicht als Geschenk für Weihnachten? „Niemand hat sich gemeldet“, sagt sie und lacht. Dann holt sie sich ein Taschentuch. Ihr Mann springt ein: „Der Betrieb muss ja trotzdem laufen.“ Und dann leiser: „Das ist doch unser Leben.“

Bernhard Fuchs betont oft, irgendwie müsse es weitergehen. Er könne viel, Stromleitungen verlegen, Regale zimmern, Autos reparieren, Flächen lackieren, egal ob Holz, Stein oder Metall. Eine abgeschlossene Lehre aber, die habe er nicht. Und was bringt es einem in Deutschland schon, viel zu können, wenn die urkundliche Bescheinigung fehlt? Er will als Lkw-Fahrer das fehlende Einkommen ausgleichen.

Mittlerweile haben Fuchsens ihre Lebensversicherung gekündigt. Irgendwo muss das Geld herkommen, um in ­Zukunft wieder Geld verdienen zu können.

Im Juni lockerte Bayern die Regelungen nach dem ersten Lockdown: In Freizeitparks durften Besucher wieder Achterbahn fahren, in Theatern und Kinos durften sie wieder Vorstellungen besuchen. Feste aber blieben weiter verboten, ob mit 200 oder 200.000 Besuchern. Unfair, fanden die Fuchsens, gerade die Freizeitparks seien doch nur Volksfeste der etwas anderen Art.

Bernhard Fuchs

„Der Betrieb muss ja trotzdem laufen. Das ist unser Leben“

Am 29. Juni verklagten sie mit 19 anderen Schaustellern, Lieferanten und Veranstaltern den Freistaat Bayern. Sie wollten eine Ausnahmeregelung, wie die Freizeitparks. Zwei Wochen vor der Urteilsverkündung sagte Andrea Fuchs: „Wenn die Klage floppt, sind wir am Arsch.“

Anfang Juli demonstrierten sie gemeinsam mit 1.600 anderen Schaustellern im Berliner Regierungsviertel. Ein paar Tage später wiederholten sie die Aktion in München.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entschied am 14. Juli: Legt der Veranstalter ein geeignetes Infektionsschutzkon­zept vor, sollte eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden. Doch das war nur teilweise ein Erfolg. Anders als Freizeitparks sind Schausteller nicht selbst Veranstalter, sondern Gäste. Und zum Veranstalter werden, das bedeutet schon in normalen Zeiten Wochen, wenn nicht Monate Konzeptarbeit und Organisation, immer verbunden mit hohem Risiko. Corona erschwert die Bedingungen zusätzlich; zum Gefährder will niemand werden, egal ob Gemeinde, Schützenverein oder Feuerwehr.

Noch kurz vor der Pandemie hatten sich Fuchsens neue Fenster einsetzen lassen, die Rechnung kam erst, da waren sie schon mitten in der Krise. Ihr 22-jähriger Sohn, Bernhard junior, half mit seinem Sparbuch aus. Seit die Rechnungen drücken, übernimmt er die Nebenkosten der Privatwohnung. Als angestellter Instandhalter bezieht er ein regelmäßiges Gehalt.

„Er hatte ja auch eigene Träume, aber das Geld dafür steckt jetzt hier. Das ist scheiße. Das war nie der Plan“, sagt An­drea Fuchs. Aber es sei ja auch für ihn, „er wird das alles ja irgendwann erben“. Fragt man den Junior, ob er den Betrieb weiterführen wolle, zuckt er mit den Schultern. Gerade könne er es sich nicht vorstellen, aber vielleicht irgendwann.

„Das ist bei uns Tradition. Ich habe noch Fahrgeschäfte von meinem Vater“, sagt der Senior. 
„Und verkaufen hilft ja auch nicht. Die Sachen will jetzt niemand“, sagt Andrea.

„Wir haben da draußen so viel Geld stehen …“, fügt sie hinzu und meint: das Kassenhäuschen, den Greifautomaten, die Schießbude, den Autoscooter und die Schiffschaukel.

In die Gassen, die zwischen den Fahrgeschäften bleiben, zieht es Bernhard Fuchs immer mal wieder. Auch jetzt. Er geht durch die Reihen geparkten Metalls, manchmal tätschelt er eine Eisenstange wie ein Reiter sein Pferd. Er läuft weiter, ohne Ziel, einfach ein paar Meter weiter.

Dann hebt er den Kopf, als wäre er überrascht, dass er plötzlich vor der Schiffschaukel steht. Er sieht auf lose Lichterketten und auf die Holzpflöcke, zwischen den Schaukeln. Auf alles, was jetzt aufgebaut auf einem Weihnachtsmarkt stehen müsste. „Das tut weh“, sagt er. Das tut schon gscheid weh.“

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