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: Ohne Abschiedsfest

Während Wohnungszwangsräumungen wegen Mietrückständen temporär außer Kraft gesetzt wurden, gilt für reguläre Kündigungen trotz Pandemie die gesetzliche Kündigungsfrist. Und die beträgt auch bei Gewerben mit einer Mietdauer von beinahe 40 Jahren sechs Monate.

Das habe ich neulich von einer Freundin gelernt: Ihrem Vater wurde nach 37 Jahren gekündigt. Er hat kurz nach dem ersten Lockdown Bescheid bekommen, dass ihm bis Ende Dezember bleibt, seinen Buchladen aufzulösen oder seinen Bestand immens zu verringern und in einen winzigen Laden im Nachbarhaus umzuziehen.

Während ihr Vater noch darüber nachdachte, ob er sich unfreiwillig verkleinern oder frühzeitig in Rente gehen soll, kam er ins Krankenhaus. Meine Freundin musste alles absagen und übernehmen.

Der Laden mit handverlesenen Büchern und Stammkund*innen, die ihre Begeisterung für Bücher teilen, ist das Lebenswerk ihrer Eltern. Sie haben ihn gemeinsam gen Ende ihres Studiums gegründet, da sie sich von der Selbstständigkeit größtmögliche Freiheit erhofften. Meine Freundin ist quasi in den Ladenräumen groß geworden. Ich habe als Jugendliche viel Zeit mit ihr dort verbracht, und als ich mit 16 spät dran war, mich um ein Schülerpraktikum zu bemühen, durfte ich eins bei ihren Eltern im Buchladen machen. Ich erinnere mich noch heute gerne an die zwei Wochen. An den Geruch frisch bestellter Bücher, an die Buchrezensionen, die ich schreiben durfte, und die Postgänge, um Bücher zu verschicken.

Treue Kundschaft

In den letzten Jahren hat der Laden dank treuer Stammkundschaft einiges überstanden: Die Konkurrenz großer Buchhandlungen, in denen sich ganz anonym ganze Bücher lesen lassen, die Konkurrenz durch Onlinehändler, die die Bücher über Nacht ins Haus liefern. Selbst Corona hat ihm nicht geschadet. Vermutlich weil der Vater meiner Freundin, der den Laden nach dem Tod seiner Frau allein weiterführte, etwas hatte, was weder große Buchhandlungen noch Onlinehändler bieten können: Echte Leidenschaft für Bücher und eine große Debattenfreude über alle aktuellen literarischen und politischen Entwicklungen.

Die meisten Kund*innen, das habe ich während meines Praktikums und bei unzähligen Besuchen danach erlebt, kommen nicht, um ein bestimmtes Buch zu kaufen. Sondern um sich beraten zu lassen, was sie lesen sollten. Was sie nicht verpassen dürfen. Und um über Literatur und das Leben zu reden. Die Stammkunden haben den Laden auch über die bisherige Coronazeit gerettet, per E-Mail und Telefon Bücher bestellt und sie durch die Tür angenommen. Seit dem ersten Lockdown schien das Geschäft sogar besser zu laufen.

Dem Vermieter aber ist der Wert des Ladens als sozialer Ort im Kiez egal: Bei einer Neuvermietung kann er heutzutage weitaus mehr Geld nehmen. In einem Brief an den im Krankenhaus liegenden Vater meiner Freundin schreibt er: „Ihre Mietzahlungen sind so unterirdisch gering, dass es mir nicht länger zuzumuten war, Ihr Lebenswerk zu sponsern.“

Noch ist unklar, wann und in welcher Verfassung der Vater meiner Freundin aus dem Krankenhaus entlassen wird. Einen neuen Laden einzurichten aber schafft er nicht. Daher muss der jahrelang aufgebaute Bestand nun inmitten des Lockdowns ohne großes Weihnachtsgeschäft und ohne Abschiedsfest weg. Alle Freunde helfen.

An einem Samstagnachmittag kommt auch meine sechsjährige Tochter mit. Nachdem sie sich einen Stapel Kinderbücher ausgesucht und meine Freundin bei der Schaufensterdekoration unterstützt hat, öffnet sie die Ladentür und schreit: „Alles muss raus! Kommt rein und kauft die Bücher! Sonst verpasst ihr echt was!“ Eva-Lena Lörzer