Existieren im Als-Ob

Wiedergelesen: Ein eigenwilliger Roman voller fließender Gedanken, aber ohne echte Handlung – „Ein Mann liest Zeitung“ schrieb der Kieler Journalist Justin Steinfeld im Exil. Erschienen ist das Buch erst nach dem Tod des Autors

Die Geschichte seines Protagonisten Leonhard Glanz ist erkennbar auch die seine: Justin Steinfeld (1886–1970) Foto: Archiv Weinke

Von Frauke Hamann

Dieser Roman hat keine Story, keine Handlung. Es geht darin um die Stimme, nein, die Stimmungen, Erfahrungen und Gedanken eines Zeitzeugen. Darin spiegelt er die Situation von Emigranten, nicht nur deutsch-jüdischer, nicht nur in der Tschechoslowakei vor deren Okkupation durch die Deutschen: ihre erzwungene Untätigkeit, das Zeittotschlagen, die Existenz im Als-Ob. „Ein Mann liest Zeitung“ ist sein Titel, aber eigentlich lesen wir mit diesem Mann Zeitung – als schauten wir ihm im Kaffeehaus über die Schulter.

Der Mann heißt Leonhard Glanz. Er ist Jude, war Kaufmann in Hamburg und lebt nun im Prager Exil, wo er die Tage mit Zeitungslesen zubringt. Auch der Autor hatte weggehen müssen Richtung Prag: Justin Steinfeld, geboren 1886 in Kiel, lebte von 1892 bis 1933 mit Unterbrechungen in Hamburg. Er war Theater- und Literaturkritiker, erwarb 1926 die dort erscheinende Allgemeine Künstler-Zeitung, eine Halbmonatsschrift für Politik und Kultur, die spätere Tribüne. 1931 war er Mitbegründer des sozialistischen „Kollektivs Hamburger Schauspieler“.

Jüdische Herkunft und politisches Engagement im Umfeld der KPD: 1933 wurde Steinfeld inhaftiert. Dem Journalisten aus dem Grindelviertel gelang die Flucht nach Prag, wo er sich mit publizistischen Arbeiten für die Wochenzeitung Die Wahrheit, für die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung und weitere deutschsprachige Medien über Wasser hielt. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im März 1939 gelangte er über mehrere Zwischenstationen nach England, wo er 1970 auch starb.

Das Exil mit seinen extremen Erfahrungen in den Knochen, hatte Steinfeld schon in Prag mit dem Schreiben eines Romans begonnen. Während der Internierung in Australien – als potentiell „feindlicher Ausländer“ von England aus verschifft – arbeitete er daran weiter und brachte das Manuskript dann wieder in England zu Ende. Erschienen ist „Ein Mann liest Zeitung“ erst 1984, fast anderthalb Jahrzehnte nach seinem Tod. Aber erst seit den 1960er-Jahren wurden in der Bundesrepublik überhaupt Bücher wahrgenommen, gedruckt und gewürdigt, die in der Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland verfasst worden waren.

So attestierte 1985 denn auch der Rezensent des Spiegel dem Kieler Neuen Malik Verlag, „das Risiko der Veröffentlichung eingegangen“ zu sein „mit dem Mute der Naiven“. Denn jene Ausgabe „läßt uns im Unklaren, wann Steinfeld sein Buch geschrieben hat, er macht auch nicht den geringsten Versuch, die untergegangene Welt, von der Steinfeld berichtet, aufzuschlüsseln. Es gibt ja nicht nur die Juden nicht mehr, von denen da erzählt wird, sondern auch kaum eine Erinnerung an die Geschichte, auf die das Buch sich bezieht.“

Gefangen im Jetzt

„Leonhard Glanz sitzt da. Ohne Zeitung, mit der Zeitung. Für die Welt ist das egal. Für Europa ist das egal. Für die Stadt, in der er haust, ist das egal.“ Glanz ist gefangen im Jetzt, im Durchwurschteln, im bloßen Dasein. „Geschäfte hat er nicht, aber er ist beschäftigt in Geschäftigkeit.“ Er „sitzt wieder, wie er saß. Er kommt immer noch von seinen Gedanken nicht los.“ Jeder einzelne Artikel, jede Stellenanzeige, jeder Kommentar, mehr als 400 Seiten lang, löst einen Strom von Erinnerungen aus, die Assoziationen fließen. „Glanz schweift weiter durch die Zeitungsspalten“, reflektiert historische Ereignisse ebenso wie erlittenes Unrecht. Seine erzwungene Erlebnisarmut, die reflexive Untätigkeit in prekärer Lage, trifft auf die Welthaltigkeit der Zeitungen. Dabei ist der Erzähler immer an seiner Seite: Den Protagonisten charakterisiert Steinfeld wenig schmeichelhaft, nennt ihn einen „einfältigen“, einen „mäßigen“, einen „kleinen Mann in Klischeeformat. Leonhard Glanz, der Mittelmäßige.“ Dabei ist der assimilierte Jude ein erfolgreicher Getreidehändler gewesen, bis ihn der eigene Prokurist wegen Devisenvergehens anzeigt, um schließlich die Firma zu übernehmen: „Es ist eine große Zeit für Lumpen.“ Der einst geachtete Kaufmann ist nur noch „ein Artfremder“, „ein Dreck“.

Die Endphase der Weimarer Republik, der Aufstieg der Nationalsozialisten, Bürgerkrieg in Spanien, Mussolinis Feldzüge in Nordafrika: „Ein Mann liest Zeitung“ eröffnet ein Panorama der 1930er-Jahre. Der Zeitung lesende Glanz denkt über den brutalen Verlust des eigenen Handelshauses ebenso nach wie über die Aussichten auf eine ungewisse, ja bedrohliche Zukunft. Es sind fortdauernde Erklärungsversuche der heillosen Lage, politisch und persönlich.

„Exil zerrieb, machte klein und elend“, wusste Leon Feuchtwanger. „Aber Exil härtete auch und machte groß, reckenhaft.“ Als Jude verfolgt, bedenkt Glanz sein Verhältnis zum Judentum: „Ich habe immer einmal im Jahr dem lieben Gott einen Anstandsbesuch in der Synagoge gemacht.“ Um dann doch zu bekennen: „Ich bin ein Jude. Ivri Anochi.“ Mit den eigenen Leuten geht er dabei hart ins Gericht: Seien sie nicht meist auf der Seite der stärkeren Bataillone gewesen? Sei es ihnen nicht vor allem um Anerkennung gegangen, um ofenwarme Ruhe, „um Wohlbetuchtheit, um goldene Uhrketten und schwere Torten? So war es.“

Ausschweifendes Porträt

Unsere Serie stellt in loser Folge Texte und literarische Werke vor, die von Norddeutschland handeln oder deren Autor*innen hier gelebt haben oder beides – und auf die aufmerksam zu machen, es Gründe gibt.

Erneut lesen wir dafür Bücher, weil jeder meint, sie zu kennen, sie aber doch ganz anders verstanden werden müssten; weil keiner sie kennt, obwohl jeder sie kennen sollte; weil man nicht loskommt von ihnen; weil sie in Vergessenheit geraten sind oder weil sie zu Unrecht Ruhm und Publikum eingeheimst haben.

Glanz erinnert sich aber genau so auch an die nicht zufälligen Hänseleien in der Schule. „Nein, eingeboren war der Antisemitismus den Deutschen nicht. So etwas kommt nicht mit dem Menschen auf die Welt. Eingeboren ist vielleicht dem törichten Menschen der Hang zur Bestialität. Das Biest hat der deutsche Mensch nicht überwunden.“

„Ein Mann liest Zeitung“ bietet ein ausschweifendes Zeitporträt und historische Exkurse zuhauf. Die Geschichten Leonhard Glanz’und seines Erfinders, des Linksintellektuellen Justin Steinfeld, vermischen sich. So ist dies auch ein Hamburg-Roman mit vielen Bezügen zur Politik und Kultur der 1920er-Jahre. Mehrere Einschübe thematisieren Ereignisse in der Hansestadt, einer handelt von dem Altonaer Schlachtermeister, der sich als Henker verdingte und Hinrichtungen mit dem Beil vollzog. Ob Steinfeld in Prag darüber eine Zeitungsnotiz gelesen hatte – so wie, in Haifa, Arnold Zweig eine solche zu dem Roman „Das Beil von Wandsbek“ anregte? Auch um Hans Henny Jahnn geht es, diesen Nonkonformisten und „genialen Menschen“, der eine barocke Orgel in der Hauptkirche St. Jacobi restauriert, aber auch den Kulturbetrieb mit seinen Theaterstücken verstört.

Das Typoskript von „Ein Mann liest Zeitung“ verwahrt Wilfried Weinke. Der Literaturwissenschaftler, der auch ein umfangreiches Glossar erstellt hat, wünscht sich, dass der Exilroman heute anders gelesen werde als 1984: Jenseits des konkret darin verhandelten jüdischen Schicksals gehe es aktuell darum, wie heutige Fliehende, wie Migranten die Fremde erleben und darin zurechtkommen.

Steinfelds „Betrachtungen eines zeitverschwendenden Zeitungslesers“ sind mitreißend und erhellend und auch mal schwer verdaulich. Die Neuausgabe bietet einem eigenwilligen Buch nun die zweite Chance.

Justin Steinfeld: Ein Mann liest Zeitung, hg. und mit einem Nachwort versehen von Wilfried Weinke. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2020, 528 S., 28 Euro; E-Book 22,99 Euro