Tourismus neu denken: Reisen als sinnliche Erfahrung

Die Konsumlogik von Tourismus schadet nicht nur der Umwelt – sie drängt uns auch weg vom eigentlichen Zweck des Reisens.

Mann auf Platz voller Tauben

Viel Platz für Tauben auf der Plaza de Catalunya in Barcelona Foto: Nacho Doce/reuters

Ein Topthema der ­Pandemiesaison wa­ren Spaziergänge. Und so kam es, dass der Spaziergangswissenschaftler Bertram Weisshaar zum gefragten Interviewpartner wurde. Weiss­haars neustes Buch „Einfach losgehen“ erzählt vom Spazieren, Streunen, Denken, Wandern. Weisshaar liest leidenschaftlich gern Landschaften, wie andere Leute Bücher lesen, und das kann man nur zu Fuß. Eigene Wege in einer durchgeplanten Landschaft zu finden, hält er für Kunst. Ein Spaziergang unter Coronabedingungen ist für ihn, wie „sich bewusst freizunehmen“.

Trost für schockierte Touristen, die auf ihrem Urlaubsstorno sitzen blieben? Genugtuung für Wandervögel? Klammheimliche Freude für Reisemuffel? Auf den Lockdown reagierten die Menschen unterschiedlich. Wo der eine das Durchkreuzen seiner Pläne beklagt, ist der andere erleichtert, von der „Pflicht“ zur Urlaubsreise befreit zu sein.

Dabei waren wir doch gerade überall auf der Welt daheim. Tourismus von heute wurde längst zum heimatfühligen Pendant der Globalisierung. Die wohlhabenden Mittelschichten weltweit, die zu ausreichend Geld gekommen sind, um sich eine globale Frei­zeit­orientierung zu erlauben, finden an ausgewählten Orten dieser Welt ihr besseres Zuhause: ob im Wellnessressort, auf Kreuzfahrt, in der Zweitwohnung, auf Safari oder in der Partyzone. Sie werden soziologisch, etwa von Andreas Reckwitz, in der neuen urbanen und kosmopolitisch orientierten Mittelschicht verortet. Diese nutze „Globalität in allen ihren Facetten als eine Ressource für die Entwicklung des Ich“.

Wir rasen um die Welt

Als „identitätsstiftende Beschäftigung“ gehört der weltumspannende Tourismus hier längst zum Habitus. Man macht es dem Geld gleich, das um die Welt rast. Die heutigen Touristen bewegen sich auf einer eigenen, selbst geschaffenen Topografie, die wie eine glänzende Folie die Welt umspannt. Die Urlaubsreise, auch wenn sie erst seit rund 60 Jahren etabliert ist, erscheint als größte Selbstverständlichkeit. Als wäre sie ein Menschenrecht.

Mann mit Schirm in Venedig

Einsam auf dem Markusplatz in Venedig Foto: Manuel Silvestri/reuters

Wenn aktuelle Stimmen zum Coronalockdown wie die des Historikers Valentin Groebner, des Soziologen Hartmut Rosa oder des Philosophen Richard David Precht im aktuellen Stillstand auch einen überfälligen Bruch sehen, drücken sie damit ihr Unbehagen an der ex­tre­men Beschleunigung auch im Tourismus aus.

Ein Jahr zuvor, noch vor Corona, waren nicht Spaziergänge ein Topthema, sondern die weltweiten Hotspots mit ihren explodierenden Zahlen. Nicht nur Postkartenstädte wie Barcelona oder Rom, sondern auch klassische touristische Highlights wie Venedig, Machu Picchu oder selbst verträumte Orte wie Hallstatt im österreichischen Salzkammergut wurden zu Besucher- und Instagram-Hits.

Und nun diskutieren Optimisten, ob sich im Lockdown vielleicht neue Chancen zur gesellschaftlichen Transformation, zu mehr Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit abzeichnen.

Der Coronalockdown kappte die Spitze der rasenden Beschleunigung. Reisewahn, Autowahn, Modewahn – unsere Konsumgesellschaft geizt nicht mit Exzessen. Tourismus hat uns die Vielfalt der Welt leicht zugänglich gemacht, bis sie bedeutungslos wurde. Das Reisestorno zwingt uns zum Innehalten, Selbstverständlichkeiten werden hinterfragt. Die Zukunft scheint plötzlich verhandelbar.

Gerade wegen seines Erfolgs nimmt Tourismus für die erhofften Transformationsprozesse eine Schlüsselrolle ein. Tourismus ist ein Globalisierer der ersten Stunde und wirtschaftlich gesehen eine Boomindustrie ohne ein absehbares Ende. Seit Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben sich die Touristenzahlen weltweit verdreißig- und die Fluggastzahlen versiebzigfacht.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Tourismus hat ­Landschaften ruiniert, aber auch moderne ­Infrastrukturen befördert, er hat sich in traditionelle Lebensräume geschlichen, aber auch deren traditionelle Herrschafts- und Machtstrukturen angefressen sowie geregelte Arbeits­verhältnisse und Emanzipationsprozesse für Frauen befördert.

Er hat den Erfahrungsraum aller erweitert und Kontakte ermöglicht. Er ist heute ein unverzichtbarer Eckpfeiler der Volkswirtschaften vieler Länder. Die Fliegerei ist ein Klimakiller, und die Mobilität ist ein Stressor, aber ohne Mobilität keine Internationalität und keine Weltgesellschaft.

Profilierte ­Wissenschaftler wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Maja Göpel, die jetzt den Vorsitz des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) innehat, werben für die sozialökologische Transformation. „Ohne tiefen Strukturwandel und die Veränderung von Konsummustern wird es nicht gehen“, sagt sie im Interview mit der taz. Die Nachhaltigkeitsforscherin plädiert für ein anderes Wirtschaften. „Aber solange unsere Alltagsroutinen durch To-go-Verkaufsbuden führen und unsere Aufmerksamkeit mit Werbe- und Marketingbotschaften vermüllt wird oder auf Kurzlebigkeit getrimmte Trends wie Fast Fashion (...) nicht politisch angegangen werden, bleibt Konsumismus die vermeintliche Normalität.“

Mit ihrem Buch „Unsere Welt neu denken. Eine Einladung“ hat Maja Göpel jetzt einen Sachbuchbestseller gelandet. Doch bei allem Publikumsinteresse und aller Zustimmung, die Nachhaltigkeitsziele laut Umfragen erreichen, wundern sich Wissenschaftler doch immer wieder, wie wenig tatsächlich von den Konsumenten selbst angegangen wird: „Die komplette Nachhaltigkeits- und Klimaschutzszene verzweifelt ja hochprofessionell an der Frage, warum Menschen nicht zur Veränderung ihrer Lebensweise bereit sind, obwohl sie doch so viel darüber wissen, dass es so nicht weitergeht. Vielleicht wäre es einfach besser, statt noch mehr Information und Wissen anzubieten, mal darüber nachzudenken, wo denn wohl Veränderungsbereitschaften zu finden sind – im Wissen liegen sie jedenfalls nicht,“ schreibt Harald Welzer.

Wie verzogene Kinder

Auch für Welzer ist Konsumismus ein Bremsklotz: „Zum einen wurden in Zeiten des Hyperkonsums künftige individuelle Ziele durch einen Sofortismus der unverzögerten Bedürfnisbefriedung ersetzt (...). Was ich haben will, kann ich sofort bekommen, ohne Triebaufschub (...).“ Bürger und Bürgerinnen träten fast ausschließlich nur noch in der Verbraucherrolle auf und beanspruchten Lieferung am besten sofort. „Wie verzogene Kinder bekommen sie sie auch.“ Corona mache, meint Welzer, falsche Wertigkeiten deutlich.

Tatsächlich sitzen wir in Mustern fest, gehen Routinen nach und folgen, ohne groß darüber nachzudenken, gesellschaftlichen Standards und den Denk- und Handlungsmustern unserer jeweiligen Milieus. Eine Gesellschaft insgesamt sei „träge“, so der Soziologe Armin Nassehi – der deshalb auch keine großen Veränderungen durch Corona und die Lockdowns erwartet.

Entgegen allen sonstigen Beschleunigungen setzen sich Wandlungen in den Tiefenstrukturen nämlich nur langsam durch, und das selten ohne gesellschaftliche Reibung und soziale Proteste. Der Anpassungsdruck, der wegen sozialer Wandlungsprozesse auf den Menschen lastet, ist und war immer hoch.

War es früher einmal der extreme Zwang der Einpassung in die „neue“ Industriegesellschaft mit ihrer rigiden Ökonomie und den Arbeitszwängen, die sich radikal gegen das vorindustrielle, bäuerliche Zeit- und Lebensgefühl richteten, so fordert heute die neue digitale Gesellschaft mit ihrer Medialität heraus, ihren neuen und abstrakten Raum- und Zeitordnungen sowie transhumanen Tendenzen. Die Anforderungen an die Flexibilität und Selbstorganisation der Einzelnen sind sehr hoch geworden. Reisen ist ein Wohlstandsprivileg. Aber auch ein Trost. Und ein Bonus für die ganze Mühe.

Worauf wollen und können wir verzichten? Wie uns umgewöhnen? Nein, schlimm ist es sicher nicht, infolge von Seuchenschutzmaßnahmen vor überholt geglaubten Grenzen zu stehen und sich umsehen zu müssen. Aber kann man wirklich guten Gewissens Balkonien als Reisealternative empfehlen?

Vielleicht ist reisen wertvoller, als man gemeinhin denkt. Nicht als Konsumprodukt und Lifestyle, sondern als sinnliche Erfahrung, als Empfindung von intensiver Körperlichkeit, Lebendigkeit und Erotik. Wer für Unerwartetes offen ist, wird auch überrascht. Das Reisen hat uns substanzielle Selbsterfahrungen ermöglicht, an unterschiedlichen Orten, die auf uns zurückgewirkt haben und sich in unsere Wahrnehmungsweisen und unser Selbstsein eingeschrieben und ungemein bereichert haben. Ein Luxus. Eine privilegierte Welterfahrung, für die, die reisen konnten und durften. Ein Privileg der Privilegierten. Aber leider verschüttet unter Konsum, einer touristischen Praxis rasender Weltaneignung.

Die Konsumlogik des Tourismus mag jeden locken und die Reisewünsche erfüllen. Mit der Verplanung von Zeit, der Anreise ohne Eigenbewegung, der Normierung fremder Erfahrungsräume als touristische Spielburgen, der Aufhebung jeglichen Leerlaufs hat das marktförmige touristische Arrangement jedoch aus Reisekultur eine normierte Bedürfnisbefriedigung gemacht.

Ein viel beschworenes Bild für Muße, Körperlichkeit, Erotik ist dagegen immer wieder die Bewegungsfreiheit am Strand. Das Meer, der Sand, der Wind stimulieren die Gesamtheit der menschlichen Sinne und wecken Körpergefühle. An Stränden wird Zeit verplempert. Man darf zur Ruhe kommen. Hier kann sich Erotik entfalten. Strandleben ist wie eine Bühne. Auch sehen und gesehen werden ist Kommuni­kation. Und es öffnet Perspektiven.

Neue Projekte in den Nischen

Vor allem Natur nimmt im Resonanzerleben von Menschen eine immer wichtigere Bedeutung ein. Menschen, die sich bewegen, finden leichter zu sich. Weite Strecken zu Fuß zu gehen wird nicht ohne Grund als Tipp gehandelt. Albert Hofmann, der Erfinder des LSD, empfahl jedem, der auf einen Rausch aus ist, den Gang in den Wald. 
All dass bedeutet nichts anderes, als sich selbst intensiver zu spüren.

Sich dieses Erleben zurückzuholen, müsste Teil eines Wandels der Reisekultur sein. Einer Reisekultur, die sich des Ausverkaufs der Sinne genauso bewusst ist wie einer Vielfliegerei, die das Klima schädigt.

„Das Wichtige an der Pandemieerfahrung ist, dass die Idee implodiert ist, dass es nicht anders geht, als wir es bisher machen“, so Maja Göpel. Sie befürwortet neue Pfade und neue Lösungen.

Solche Freiheiten gibt es. Auch als Neuansätze und touristische Projekte in den Nischen. Das Umdenken im Tourismus hat längst begonnen. Länger, intensiver, weniger empfehlen tourismuskritische Portale für Fernreisen. Und wer hätte je gedacht, dass sich heute an jedem Flüsschen ein gut ausgebauter Radweg findet und dass die hiesige Restnatur mit „Toptrails“ für Wanderer brilliert? Und solange wir gezwungenermaßen unsere Entdeckerlust in der Nähe ausleben, entdecken wir vielleicht auch ein anderes Reisen.

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