das portrait
: Mit wilden Live-Kommentaren mobilisiert Hasan Piker in den USA eine neue Generation

Foto: Billy Bennight/imago

Nein, entspannen lässt sich während Hasan Pikers Streams und Videos wirklich nicht. Zu schnell spricht der 29-Jährige, zu derbe sind seine Flüche, zu unübersichtlich ist das Bild. Denn Piker lässt neben den Nachrichtenausschnitten und Social-Media-Schnipseln, die er zeigt und in seinem Wohnzimmer in Los Angeles sitzend kommentiert, die Kommentarspalte seiner Zuschauer*innen mit über den Bildschirm laufen. Auf interessante Kritik geht er sofort ein und widmet manchmal eine ganze Stunde oder länger Fragen, die er bekommt.

Die Zeit dafür hat er, denn Piker streamt täglich zwischen 8 und 12 Stunden auf Twitch, einer Plattform, die eigentlich für die Übertragung von Videospielen und E-Sport bekannt ist. Hunderttausende Menschen, auch außerhalb der USA, folgen ihrem „woke bae“, ihrem aufgeklärten Lieblingsmenschen dort mittlerweile. 4,5 Millionen sahen Pikers Livekommentar in der US-Wahlnacht.

Der 1,95 Meter große muskulöse Politikwissenschaftler nutzt Twitch seit 2018 mit wachsendem Erfolg für eine Art radikal linken Online-Stammtisch. Er politisiert mit seinem schroffen, chaotischen Stil nicht nur Teenager, sondern auch die nerdige Gamerszene. Dabei kommt ihm sicherlich zugute, dass ihn viele attraktiv finden. Piker bezeichnet sich selbstironisch als „Himbo“, also als einen gut aussehenden aber wenig intelligenten Typen.

In den vergangenen Tagen war Piker nicht nur damit beschäftigt, jene Republikaner*innen auseinanderzunehmen, die weiterhin an einem Sieg Donald Trumps festhalten. Auch Anhänger der Demokrat*innen, die für ihren nur knappen Wahlsieg Parteilinke wie Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar oder Cori Bush beschuldigen, bekommen Pikers Wut und materialistische Analyse um die Ohren gehauen.

Und wer den Einsatz für die Rechte von People of Colour, von Schwarzen und trans Menschen gegen die Anliegen von „working families“ ausspielen möchte, muss ebenfalls mit Pikers Furor rechnen. Denn gewerkschaftliche Mobilisierung und Fragen der Gesundheits- und Sozialversicherung stehen bei ihm im Fokus, werden aber auch immer durch intersektionale Perspektiven ergänzt.

Überall, wo man im Internet hinschaue, sagte Piker kürzlich der New York Times, würden die Linken „als hysterische, emotionale, blauhaarige Krieger*innen für soziale Gerechtigkeit gesehen“ und dafür abgewertet.

Dabei gebe es tatsächlich allen Grund, emotional und frustriert zu sein, findet der in Istanbul aufgewachsene Piker, der seine ersten Auftritte bei „The Young Turks“, dem linken US-Mediennetzwerk seines Onkels Cenk ­Uygur hatte. Mit seinem eigenen Format möchte er eine kämpferisch-emotionale Gegenöffentlichkeit schaffen, Deklassierte mitnehmen und letztlich eine wirklich linke Partei in den USA mit ermöglichen. Stefan Hunglinger

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