Ehemaliges Sektenmitglied: Ausstieg aus der Angst

Fast zwanzig Jahre braucht Francis Tobias Luce, um sich von den Zeugen Jehovas zu lösen. Emotional muss er sich danach komplett neu zusammensetzen.

Ein Mann in grauen Klamotten steht im Sonnenlicht an einer steinernen Wand

Heute lebt Luce in Bremen und hat eine Selbsthilfe­gruppe für Sektenaus­steiger*innen gegründet Foto: Tristan Vankann

Wann immer ein Gewitter aufzog, dachte Francis Tobias Luce, dass der Tag seiner Bestrafung gekommen sei. Noch Monate nach seinem Ausstieg bei den Zeugen Jehovas ging ihm das so.

Als „Harmagedon“ bezeichnet die Glaubensgemeinschaft eine Art endzeitliche Schlacht, nach der sich entscheidet, wer ins Paradies kommt und wer nicht. Aus­stei­ge­r*in­nen stehen auf der falschen Seite, wenn der Tag Gottes anbricht und die Welt vom bösen Übel befreit wird.

Im Offenbarungsbuch wird das eindrücklich visualisiert: Auf bunten Zeichnungen fallen mehrköpfige Raubkatzen über eine schlafende junge Frau her, Aasgeier picken herumliegenden Leichen die Augen aus. Eine andere beliebte Erzählung ist der Blitzschlag, der die „Abtrünnigen“ aus dem Nichts trifft. „Dieses Unwohlsein beim ersten Donnergrollen bin ich lange nicht losgeworden“, sagt Francis Tobias Luce.

Dabei ist er mit diesen bunten Bildern gar nicht aufgewachsen, sondern trat erst als 19-Jähriger bei den Zeugen Jehovas ein. Ende der achtziger Jahre war das, damals trug der trans Mann Luce noch seinen weiblichen Geburtsnamen. Luce, der seine Kindheit in einem Heim und bei einer Pflegefamilie verbracht hatte, war gerade für eine Hauswirtschaftslehre nach Wilhelmshaven gezogen.

„Ich wurde mit Liebe überschüttet“

In der neuen Umgebung fühlt er sich nicht wohl, kennt kaum jemanden und ist unglücklich mit seiner Ausbildung. Die Zeugen klingeln an einem Vormittag, Luce vertröstet sie erst und lässt sie an einem anderen Tag doch in die Wohnung. „Sie waren so freundlich und höflich, dass ich dachte: Hörst du ihnen erst mal zu.“

Was Francis Tobias Luce in seinen ersten Monaten in der Gemeinschaft erfährt, beschreibt er als „Love Bombing“. Fast jeden Tag in der Woche Einladungen zum Kaffeetrinken oder Abendessen, „ich wurde mit Liebe überschüttet“.

Luce sitzt in Kapuzenpulli auf einem Sessel in seinem Wohnzimmer, das Gespräch findet über Zoom statt. Er lacht viel beim Erzählen. Die erste Zeit bei den Zeugen Jehovas sei schön gewesen. Zweifel an dem, was dort gepredigt wurde, habe er anfangs gar nicht gehabt. „Zu Beginn geht es viel ums Paradies, um die Schönheit, die uns erwartet, wenn wir Gottes Gesetze befolgen.“

90 Stunden Pionierdienst im Monat

Von Angst, Schrecken und „Harmagedon“ erfährt er erst, als er in der Glaubensgemeinschaft sozial verankert ist. Seinen Alltag bestimmen nun die Verpflichtungen: 90 Stunden im Monat hat er Pionierdienst, klingelt an Türen oder steht am Bahnhof, um „über Gott zu sprechen“. Die restliche Zeit arbeitet er als Reinigungskraft, um seine ehrenamtliche Arbeit für die Zeugen Jehovas irgendwie zu finanzieren.

Abends geht es im Königreichssaal – so nennt die Gemeinschaft ihr Gotteshaus – darum, die Bibel zu verstehen und all die Menschen, zu denen sie nicht durchdringen, die sie wieder und wieder schroff abweisen. „Diese Frage, wie das sein kann, dass die Menschen nicht mehr zuhören, beschäftigt jedes Mitglied“, sagt Luce.

Laut eigenen Angaben haben die Zeugen Jehovas etwa 160.000 Mitglieder in Deutschland. Seit 2017 gelten sie offiziell als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ihre Existenz ist zwar durch das Grundgesetz geschützt, ihnen wird jedoch regelmäßig vorgeworfen, gegen ebenjenes zu verstoßen.

Das Kultusministerium in Baden-Württemberg, das sich lange geweigert hatte, dem Körperschaftsstatus für die Zeugen Jehovas zuzustimmen, ist beispielsweise der Ansicht, die Gemeinschaft gefährde mit ihrem Verbot von Bluttransfusionen „Leib und Leben“ von Kindern. Außerdem widerspreche die soziale Ächtung von Menschen, die aussteigen wollen, der Religionsfreiheit. Auch die Zweizeugenregel steht immer wieder im Zentrum der Kritik. Für Francis Tobias Luce war sie der Grund, dass er sich fünf Jahre nach dem Eintritt erstmals seiner Mündigkeit beraubt fühlte.

Gewalt in der Ehe, erst verbal, dann körperlich

1991 heiratet Luce, selbstverständlich, einen Mann aus der Gemeinde. Er merkt, dass er sich auf diese Verbindung nicht einlassen kann, und vermutet, trans zu sein. Irgendwann nimmt er seinen Mut zusammen und vertraut sich dem Partner an. Der reagiert erst mit verbaler, später mit körperlicher Gewalt. Luce wird depressiv, denkt immer häufiger daran, sich das Leben zu nehmen. Er möchte die Partnerschaft auflösen und den gewalttätigen Mann anzeigen.

Für diese Fälle gibt es bei den Zeugen Jehovas die Zweizeugenregel. Sie ist ein internes „Rechtsprozedere“, bei dem zwei Älteste aus der Gemeinschaft bestätigen müssen, dass ein Gemeindemitglied Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. Erst dann darf die Person eine neue Beziehung eingehen. Die Regel gilt auch bei Gewalt gegen Kinder. Lässt sich die Tat nicht nachweisen, hat das Opfer zu schweigen.

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„Ich habe in meinen über 25 Jahren bei den Zeugen Jehovas nicht ein einziges Mal mitbekommen, dass diese Regel zum Erfolg geführt hätte.“ Luce erlebt kräftezehrende Monate, in denen er versucht, seine Situation vor den „Ältesten“ zu beweisen. 1998 lässt er sich zwar offiziell scheiden, eine Rehabilitation in der Gemeinde erfährt er nicht.

Trotzdem vergehen noch 17 Jahre, bis er die Zeugen Jehovas verlässt. Aus Naivität und aus Angst, wie er sagt.

Naivität, weil er glaubte, gegen die Zweizeugenregel vorgehen zu können. Für Luce ist schon damals unbegreiflich, dass die Beweislast beim Opfer und nicht beim Täter liegen soll. Er versucht, Gemeindemitglieder auf seine Ohnmacht aufmerksam zu machen, und wirbt für Reformen. Statt auf Zustimmung stößt Luce auf Anfeindung. Langjährige Freundinnen werfen ihm mangelndes Vertrauen in den Schöpfer vor.

Die irrationale Angst vor Gottes Rache

Und Angst, „weil ich wusste, dieser Schöpfer kann jeden Tag eingreifen und dafür sorgen, dass mich der Schlag trifft“, sagt Luce. Er weiß, dass das paradox klingt: ein Mensch zu sein, dessen Verstand und Gerechtigkeitssinn ausgeprägt genug sind, um die Regeln innerhalb einer Gemeinschaft abzulehnen, dessen Handeln aber maßgeblich beeinflusst wird von der Furcht vor einer Endzeiterzählung.

In den Jahren nach der Trennung von seinem Mann wird Francis Tobias Luce in der Gemeinde mehr und mehr ausgegrenzt. Er kommt seinen religiösen Verpflichtungen noch nach, alles andere Gemeinschaftliche meidet er.

2014 zieht Luce nach Oldenburg und traut sich aus der Distanz, seinen Ex-Mann anzuzeigen. Den Ausschlag gibt ein Gedankenspiel, in dem er sich ausmalt, dass sein gewalttätiger ehemaliger Partner den Tag des Harmagedon überlebt. Denn nach den Regeln der Zeugen Jehovas würde der Mann verschont bleiben. Seine Taten konnten ihm nicht nachgewiesen werden, er galt als vorbildlich fromm. Wenn sein Ex-Mann sich keine Sorgen vor dem Weltuntergang machen muss, denkt Luce sich, dann muss er das erst recht nicht.

Mit dem Ausstieg verschwinden das gesamte soziale Umfeld und der strukturierte Alltag

Die Anzeige führt ins Leere, die Taten sind verjährt. Ein weiteres Mal kommt es für Luce bei den Zeugen Jehovas zu einer Art Tribunal, vor dem er sich dafür rechtfertigen muss, mit seinen Privatangelegenheiten nicht an die Zeugen selbst herangetreten zu sein.

„Dieses Gespräch hat mich so traumatisiert, dass ich psychisch krank davon geworden bin“, sagt er. Luce schafft es gerade noch, eine sogenannte Ausstiegskarte auszustellen, und macht seinen Austritt damit offiziell. Formell ist der Weg aus der Glaubensgemeinschaft nichts weiter als ein Dreizeiler. Emotional musste sich Luce danach komplett neu zusammensetzen.

Ein Leben im Nichts

Wer nach Jahrzehnten aus einer Sekte aussteigt, beginnt ein Leben im Nichts. Das gesamte soziale Umfeld und der durch religiöse Verpflichtungen strukturierte Alltag verschwinden. Aus­stei­ge­r*in­nen sind „Abtrünnige“, sie sind in den Augen ihrer langjährigen Vertrauten – selbst ihrer noch in der Sekte aktiven Familienmitglieder – gestorben. Mütter reden nicht mehr mit ihren Töchtern, der beste Freund, mit dem man zusammen aufwuchs, wechselt bei einer Begegnung die Straßenseite.

Hinzu kommt, dass sich Aus­stei­ge­r*in­nen oftmals ein komplett neues System aus Werten und Überzeugungen aufbauen müssen. Ehemalige Zeugen Jehovas, die in die Gemeinschaft hineingeboren wurden, erzählen, dass sie lernen mussten, wie man Freundschaften schließt, wie man streitet, wie man eine eigene Haltung entwickelt.

Auch für Francis Tobias Luce fühlten sich die Monate nach dem Ausstieg so an, als hätte er „keine Identität mehr“. Fast alles, was ihn bisher definierte, war plötzlich nicht mehr da. Dazu kam die Frage nach seiner geschlechtlichen Identität. „Das war eigentlich mein größtes Problem.“ Zwar hatte er früh in seiner Ehe gemerkt, dass etwas nicht richtig ist. Aber in seiner Zeit bei den Zeugen Jehovas war er überhaupt nicht mit sich selbst „in Berührung gekommen“.

Homosexualität oder Transidentität gelten bei den Zeugen Jehovas als krankhaft. Es gibt Zeichentrickvideos, die Kindern vermitteln, dass Schwule und Lesben nicht ins Paradies kommen. Luce kam es nicht in den Sinn, sich jemandem dort anzuvertrauen. Spätestens nachdem der Ehemann versucht hatte, seine Transidentität aus ihm rauszuprügeln, begrub er das Thema. Nach dem Ausstieg sucht sich Luce eine Psychologin, die ihm eine Namensänderung vorschlägt. Seinen Geburtsnamen abzulegen, hilft ihm, sich selbst neu zusammenzusetzen.

Kontakt zu anderen Au­s­tei­ge­r*in­nen

Weil es in Oldenburg keine Selbsthilfegruppe für Sek­ten­aus­stei­ge­r*in­nen gibt, nimmt er Kontakt zu bekannten Ex-Zeugen auf. Rainer Ref, Walter Schöning, Margit Ricarda Rolf – sie alle haben Bücher geschrieben oder erzählen auf ihren Youtube-Kanälen, wie sie es nach ihrer Zeit bei den Zeugen Jehovas geschafft haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie melden sich bei Luce zurück, mit manchen steht er heute noch in Kontakt.

Francis Tobias Luce lernt, dass er sich ein soziales Umfeld aufbauen muss und dass psychologische Betreuung ganz essentiell für ihn ist. Er gründet auf Facebook eine Selbsthilfegruppe, in der er sich mit Menschen, die Ähnliches erfahren haben, austauscht.

Vor ein paar Monaten ist er nach Bremen gezogen, um dort eine Ausbildung als Genesungsbegleiter anzufangen. Er hilft Menschen durch persönliche Krisen und unterstützt sie dabei, sich wieder einen Alltag aufzubauen. Ende Oktober hat er eine Selbsthilfegruppe gegründet. Sechs Sek­ten­aus­stei­ge­r*in­nen kamen zur ersten Sitzung.

Eines Sommers nach seinem Ausstieg ist es draußen schwül und drückend. „Es hat sich nach Gewitter angefühlt und da bin ich einfach rausgegangen.“ Luce läuft weiter, als der erste Donner über ihn hinwegzieht, atmet ruhig. „Ich hab das einfach ausgehalten“, sagt er. „Ich wusste: Ich kann das.“

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