Wer hat gesiegt? Die oder wir?

Die Uraufführung seines Theaterstücks „Villa Jugend“ stellte Georg Seidel an die Seite Heiner Müllers. Da war er aber schon tot. Aus Anlass seines 75. Geburtstages erscheint nur ein Band mit seinen unbekanntenTexten

Die Schauspieler Hermann Beyer und Michael Kind lesen Texte aus dem Nachlass von Georg Seidel. Unter der Website der Volksbühne online abrufbar Foto: Volksbühne

Von Robert Mießner

Wen man partout auch nicht loswird, das ist Boris Becker. Gerade Montag war’s, da porträtierte ihn die FAZ und schrieb einleitend, es gehöre zum Schicksal des Tennisstars, „dass viele Leute glauben, sie würden ihn kennen“. Abends dann hatte er schon wieder seinen Auftritt, und, das glaubt man wirklich kaum, im Roten Salon der Volksbühne: „Der Tennisspieler Boris Becker beim Papst. Die Nachricht ging durch die Abendsendung des Fernsehens. Becker, wie er dem Papst einen Tennisschläger schenkt. Das Paradies auf Erden.“ Das hat es wirklich gegeben, 1986 trafen der damals 18-jährige Becker und seine Freundin Benedictine Courtin Johannes Paul II. im Vatikan. Die lakonische Notiz dazu steht im Tagebuch des deutschen Dramatikers Georg Seidel (1945–1990), zu dessen 75. Geburtstag jetzt ein Band mit Szenen, Gedichten, Prosa und Skizzen aus dem Nachlass erschienen ist. „Klartext: Bühne oder Feuer“ heißt er, der Titel wird im Buch erklärt, das von der Herausgeberin Kristin Schulz sowie den Schauspielern Hermann Beyer und Michael Kind vorgestellt wurde. Die Lesung bleibt online noch abrufbar.

Seidel ist einer, der zur Ehrenloge derer gehört, denen anlässlich einer Veröffentlichung oder eines Jahrestags immer wieder bescheinigt wird, sie seien ein Geheimtipp. Woran liegt es eigentlich? Den Mülheimer Dramatikerpreis hat er 1991 posthum erhalten, für sein Drama „Villa Jugend“, über das taz-Autor Stefan Reinicke im selben Jahr im Freitag schrieb, es sei das „Endspiel eines Staates, mikroskopiert in prototypischen Familienszenen, das letzte Stück aus der DDR“. Die wird man auch nicht los, aber wer sich ernsthaft mit ihr und ihrer Hinterlassenschaft befassen und dann noch wissen will, was darüber hinausgeht, kann bei Seidel fündig werden. Man sollte nur nicht erwarten, sich die Geschichte mit diesen Texten schöntrauern und/oder schöntrinken zu können. Seidel war von den in der DDR Schreibenden einer der Schonungslosen, was Anteilnahme nicht ausschloss.

Die Leere nach der Premiere

Vor der Boris-Becker-Notiz fällt im Tagebuch ein Name: „Die Bezirksleitung (der SED) Frankfurt (Oder) hat die ‚Schanotta‘-Programmhefte eingezogen, ohne uns, die wir sie doch gemacht haben, zu fragen. Die Leere, die sich immer breitmacht in mir nach einer Premiere, wird durch solche Nachrichten noch größer.“ Jochen Schanotta, Titelheld eines anderen Seidel-Stücks, vielleicht einer der Texte, die am deutlichsten über eine Jugend in der Spät-DDR sprechen. Schanotta sagt: „Wir lernen, damit wir zu Sklaven werden oder andere Sklaven zu Idioten machen.“ Gegen das Stück wurden die Großkaliber aufgefahren, zu denen ideologischer Kleingeist in der Lage war und ist, es kam zu einer abgemilderten Inszenierung am Berliner Ensemble und spät erst, 1989, zu einer am Theater Greifswald mit der Ostberliner Experimentalcombo Der Expander des Fortschritts. In der „Klartext“-Veröffentlichung findet sich ein Gedicht, das wie ein Schanotta-Cut-up wirkt. „Aus dem Schreibheft meines Sohnes. Vierte Klasse“ hat Seidel seiner Montage zum Hinweis vorangestellt: „der Start/ der Schritt/ der Verrat// wandern/ lehren/ helfen/ strafen/ siegen// Dunkle Wolken kamen auf./ Die Sonne verkroch sich hinter den Wolken/ Der Wind wehte./ Die Bäume wankten.“

Den Mauerfall hat Georg Seidel in einem der Texte aus dem Band bereits vorweggenommen, er geschieht im Fundstück „Wer hat gesiegt, die oder wir. Oder: Von Gott nichts mehr übrig.“ Die weit ins Groteske gehende Szenenfolge zur deutschen Geschichte hatte Seidel zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987 konzipiert; am Montag ist sie in der Volksbühne zu hören gewesen. Die DDR der 80er Jahre hatte es mit Preußen, bei Seidel unterhalten sich Friedrich und Napoleon: „Friedrich, ich muss dir ein Geständnis machen. FRIEDRICH: Nun. NAPOLEON: Ich hatte die Absicht, den preußischen Staat abzuschaffen. FRIEDRICH: Und warum hast du ihn nicht abgeschafft? NAPOLEON: Ich hatte unsere Revolution nach Preußen importiert. Ich wollte sehn, was daraus wird. Aber man kann euch Preußen bringen, was man will; Sklaven erzeugen nur neue Sklaven. FRIEDRICH: Das kann ihnen keiner verbieten.“ Eine Sportart übrigens, die in diesen Texten zweimal auftaucht, ist der Seiltanz.

Kristin Schulz (Hrsg.), Georg Seidel: „Klartext: Bühne oder Feuer“. Szenen, Gedichte, Prosa und Skizzen aus dem Nachlass.

Quintus-Verlag 2020, 176 Seiten, 20 Euro