Gebts den jungen Leuten was zum Spielen

WIEN Hubert „Hubsi“ Kramar ist ein Urgestein der freien Szene in Wien. Immer hat er auf die Provokationen der österreichischen Verhältnisse reagiert: die Kirche, die Fritzls und den verdrängten Nationalsozialismus. Jetzt, mit 64, schließt er sein Theater

Das Verbrechen des Josef Fritzl, der seine Kinder als Sklaven hielt und Kinder mit ihnen zeugte, ist für Kramar kein Einzelfall, sondern das Extrem einer verbreiteten patriarchalen Gewalt

VON UWE MATTHEISS

Die Republik hat sich schön gemacht – wie jedes Jahr zum Opernball, auch wenn der längst nicht mehr das ist, was er mal war. Herr und Frau Neureich belagern Logen und Parkett mit schlechtem Geschmack. Draußen machen diese aufgeregten jungen Leute immer einen solchen Krach, dass man direkt nach der Polizei hätte rufen müssen, wäre sie nicht schon längst da.

Da ist der weiße Rolls-Royce zunächst gar nicht aufgefallen, bis schließlich eine grau-grün uniformierte Gestalt daraus entstieg, den rechten Arm so hochriss, dass die hohle Hand über der Schulter nach oben zeigte, und im schnarrenden Ton lospolterte: „Volksgenossen! Äch bän wiedar hierr.“ Schutzpolizisten aus der Provinz, die für dieses Ereignis in den Sündenpfuhl Hauptstadt abkommandiert waren, ließen den Schirmmützenträger mit der Rotzbremse verdutzt passieren. Das sah alles so echt aus, aber irgendwie auch nicht. Die Gestalt war einen guten Kopf größer als das Original – ein eingebauter V-Effekt, wenn man so will. Der schöne Rolls konnte plötzlich nicht mehr gestartet werden, drinnen hinterm Portal warteten minderjährige Blumenmädchen auf den österreichischen Bundespräsidenten.

Man schrieb das Jahr 2000, als ein europäisches Tabu gebrochen wurde: Österreichs Christdemokraten bildeten ohne Not eine Regierung mit der Partei des Rechtspopulisten Jörg Haider. Brüssel beriet Sanktionen, die europäische Intelligenz rief zum „Widerstand“ und Hubert „Hubsi“ Kramar spielte die Rolle seines Lebens.

Neu war sie ihm nicht, und die Uniform hatte er sowieso schon. Mit seiner individual- und nationaltherapeutischen Suche nach dem „Hitler in uns“ hatte Kramar sich schon einen Namen gemacht im Theater, im Kabarett, in öffentlichen Aktionen und den an sie anschließenden Verwaltungsverfahren, die eine im europäischen Vergleich leicht reizbare Exekutive gegen ihn anstrengt.

Herr K. ist Schauspieler

So endete auch der Opernauftritt im Mannschaftswagen der Staatspolizei. „Die setzen sich auf einen drauf, das is echt arg“. Kramar führt im Falle drohender Verhaftungen immer ein Exemplar der österreichischen Bundesverfassung mit sich, zum Teach-in in Grundrechtsfragen. Nach anfänglicher Spannung zeigen sich die Beamten später meist dankbar für sachdienliche Formulierungshilfen zur Verfertigung des Protokolls.

Dass die Opernball-Affäre ausgegangen ist wie das Hornberger Schießen, kann man noch immer im Internet nachlesen. Die Wiener Bürokratie vergisst nichts. Die polizeilichen Belastungszeugen waren keine wohlgelittenen Gäste im Haus der Sprache. Herr K. wurde nicht verurteilt. Herr K. ist Schauspieler und tritt im Rollenkostüm auf. Der Opernball ist eine Faschingsveranstaltung, und verärgert hat er damit niemanden, das ist amtlich. Die abschließende Selbstaufhebung des Ganzen erhält dem Clown die ästhetische Autonomie gegenüber seinen noch so guten politischen Gründen.

Wenn man ihn als Provokateur bezeichnet, kränkt Hubsi Kramar das beinahe. Sind es doch die Verhältnisse, die ihn provozieren: die Kirche, die Rechten und immer wieder der fahrlässige Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich.

Von seinen Feldstudien im Milieu der Exekutive profitiert Kramar auch an anderer Stelle. Im Wiener „Tatort“ spielt er den Vorgesetzten des Katastrophen-Ermittlerduos Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser): überkorrekt gescheitelt, im feinen Dreiteiler, etwas schmierig, unterwürfig gegenüber der Boulevardpresse, aber zuletzt doch integer. Der Wiener Tatort ist derzeit sehr beliebt auch in Deutschland. Wusste er nicht, er hat auch keinen Fernseher. Die Ausflüge ins „seriöse“ Schauspielergewerbe verschaffen materielle Unabhängigkeit zu kommenden Unbotmäßigkeiten.

Dabei hatte Kramar einmal ganz seriös angefangen. Als siebtes Kind einer Familie aus dem niederösterreichischen Provinzbürgertum 1948 in Scheibbs geboren sollte er zunächst Medizin studieren, das hatte ihm allerdings zu viele Nebenwirkungen. „Wenn ich von oben her reinkomme“, rang er dem Vater ab, „versuch ich’s mit dem Theater“. Die Episode am Wiener Reinhardt-Seminar endete damit, dass die im Haus totemistisch verehrte Nestroy-Statue eines Morgens rot angemalt war. Jahrzehnte später gab’s dennoch einen Nestroy-Preis frei Haus. Auch die Filmakademie blieb eine Episode. Erst der Unterricht in kulturökonomischem Herrschaftswissen während eines postgradualen Studiums in Harvard vermittelte Kramar das Handwerkszeug, das er suchte.

Die joviale Verkleinerungsform des Vornamens zeigt Hubsi als letzten Verbliebenen einer alten Wiener freien Szene, die sich gegenüber anderen dadurch auszeichnete, dass ästhetische Avantgardebestrebungen, neue soziale Bewegungen und die Suche nach alternativen Lebensformen lange nicht voneinander geschieden waren. Alle drei Tendenzen der 70er und 80er Jahre kommen verspätet nach Wien und sind verbunden mit der „Arena“, dem 1976 besetzten ehemaligen Auslandsschlachthof. Während auf den Bühnen der Stadt Stand- und Spielbein vorherrschen, erfährt man hier, was sich von Grotowski über La MaMa und Jerôme Savary in der Welt so tut. Alles, was in Wien links oder anders ist, führt sich bis heute auf die „Arena“ zurück.

Kramar war bis in die 90er Jahre einer der profilierten Sprecher für die Szene als Ganzes. Auch hierfür wurde ihm 2011 das Goldene Ehrenzeichen der Stadt Wien verliehen. Der Vorvorgängerin des Stadtrats, der ihn ehrte, hielt er bei einer Debatte über die soziale Lage der Künstler eine Spielzeugpistole an den Kopf. Man hielt ihn damals wohl für eine Art von Wiener Dieter Kunzelmann. Ob solche Ereignisse auch die Vervielfachung der Subventionen für Freie Gruppen in Wien Ende der 80er Jahre betrieben haben, sei dahingestellt. Aber es war wohl besser aus der Sicht der regierenden Sozialdemokratie, den jungen Leuten etwas zum Spielen zu geben. Es entstand eine Vielfalt, in der auch Kramar weiter sein Auskommen fand. Mit einer sich differenzierenden freien Szene, die sich von ihren gesellschaftspolitischen Visionen zunehmend verabschiedet und die Konzepte einer bürgerlichen Avantgarde weitertreibt, konnte er weniger anfangen.

Kramar blieb bei seinen Selbsterfahrungskonzepten, die er seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts in seinem „3raum Anatomietheater“ auch auf Personenkreise ausweitet, die dem bürgerlichen Kulturbetrieb als Randgruppen gelten. Es gibt Uraufführungen von Autoren, die er einfach mag, Drag- und Trash-Versionen von Oscar Wilde bis Werner Schwab. Inspirierendes und Dilettantisches spielen vielfach Hand in Hand und lassen die wohlmeinend linksliberalen Kritiker gelegentlich mit den Haaren raufen. Kramar denkt Kunst vom Ende der Kunst her. An ihrem letzten Aufbäumen sollen entgegen bürgerlichen Qualitätshierarchien noch einmal alle teilhaben können.

Die Erregung der Medien

Seine Darbietungen werden „dank der Dialektik von bewusst schlechter Kunst“ zum Spiegel der Verhältnisse, schreibt der Wiener Kritiker Ulrich Weinzierl über Kramars jüngsten globalen Coup im Jahr 2009. Es war wieder eine psychoanalytisch-politische Dämonenaustreibung.

Das Verbrechen des Josef Fritzl, der seine Kinder als Sklaven hielt, sie vergewaltigte und Kinder mit ihnen zeugte, ist für Kramar kein Einzelfall, sondern das Extrem einer gewöhnlichen, verbreiteten und verbreitet hingenommenen patriarchalen Gewalt. Die Erregung der Medien schien ihm die Opfer ein zweites Mal auszubeuten. Und diese Erregung schürte er ein zweites Mal durch die bloße Ankündigung, ein Fritzl-Stück aufzuführen, mit dem Effekt, dass sich Medienvertreter aus aller Welt im „3raum“ mit Blitzgeräten und Kameralampen gegenseitig heimleuchteten.

Dieses Theater schließt Kramar nun im Herbst, was in Wien auch schon wieder fast ein Coup ist. Eine ungeschriebene kulturpolitische Regel lautet: Die Stadt schließt kein Theater und leistet Subventionen dafür ad infinitum. Was zur Folge hat, dass kaum noch welche eröffnet werden. Kramar macht nun unverortet weiter. Solange die österreichischen Dämonen auf der Seele lasten, gilt: The Torture Never Stops.