Biochemiker über Sicherheit von Corona-Impfstoffen: „Die Daten müssen valide sein“

Das Paul-Ehrlich-Institut prüft, ob Covid-19-Impfstoffe wirken und sicher sind. Präsident Klaus Cichutek beteuert: Dafür tue man alles Erdenkliche.

Zwei Hände halten eine Spritze mit künftigem Corona-Impfstoff

Die derzeit wohl heißbegehrteste Spritze der Welt Foto: Dogukan Keskinkilic/Anadolu Agency/picture alliance

taz am wochenende: Herr Cichutek, normalerweise dauert es Jahre, bis ein Impfstoff entwickelt ist. Jetzt sind es Monate. Das Bauchgefühl sagt einem, dass da doch irgendwo Abstriche gemacht werden müssen, etwa bei der Sicherheit. Kann man das ausschließen?

Klaus Cichutek: Ich kann Sie beruhigen. Wir handeln nicht nach Bauchgefühl, sondern mit dem Kopf. Unsere Expertinnen und Experten haben jahrzehntelange Erfahrung bei präventiven Humanimpfstoffen. Das war die Grundlage für unseren Rat vom Frühjahr dieses Jahres, wie die Entwicklung beschleunigt werden kann. Wir haben bei Herstellung und Qualität von Covid-19-Impfstoffen exakt die gleiche Vorgehensweise wie bei anderen Humanimpfstoffen. Bei klinischen Studien haben wir das gleiche Setting.

Und wie ging dann alles so schnell?

Wir haben zwar gesagt, dass bestimmte unabdingbare, nicht klinische Untersuchungen durchgeführt werden müssen, bevor eine Erprobung am Menschen stattfindet. Aber andere, unkritische Untersuchungen, die sonst vorher stattfinden, konnten jetzt auch parallel zu den klinischen Tests gemacht werden. Das hat sich bewährt. Bei den klinischen Prüfungen der Covid-19-Impfstoffe sind sogar mehr Probanden dabei als sonst üblich. Und es wurden Phasen bei klinischen Studien kombiniert, zum Teil unter einer Zwischenbegutachtung durch das Paul-Ehrlich-Institut oder andere Arzneimittelbehörden.

Klaus Cichutek, 64, ist Biochemiker und Experte z. B. für HIV und DNA/Vektorimpfstoffe. Seit 2009 ist er Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, das für die Zulassung von Impfstoffen mitverantwortlich ist.

In Europa könnte es bald eine vorläufige Zulassung geben. Bis dahin kann aber nur ein Teil der Daten aus den klinischen Studien ausgewertet werden. Fehlen so nicht relevante Daten zur Sicherheit der Impfstoffe?

Nein. Auch eine vorläufige Zulassung, so sie denn zum Tragen kommt, legt zugrunde, dass ein ausreichender Datensatz vorhanden ist. Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit können wir damit beurteilen. Die Datenbasis wird sehr groß sein, es gibt ja zwischen 30.000 und 60.000 Probanden bei den Tests.

In den USA und auch hier kursiert die Zahl: Wenn die Daten zur Impfstoffsicherheit bei 3.000 Proband*innen ausgewertet sind, kann eine vorläufige Zulassung erfolgen.

Das stimmt so nicht. Die Zahl stammt zwar von uns, kann aber nicht auf die Covid-19-Impfstoffe bezogen werden. Sie gibt lediglich wieder: Wenn 3.000 Menschen geimpft wurden, dann kann man seltene Risiken für Nebenwirkungen mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 1.000 erkennen. Das ist die Mindestanforderung, die wir haben. Das wird aber nur bei bereits bekannten Impfstoffen angewendet, die neu kombiniert werden – etwa in den bekannten Mehrfachimpfstoffen.

Wie viele Daten zur Sicherheit brauchen Sie denn?

Ob eine Zulassung beantragt werden kann, entscheidet ein Prozess. Die Daten müssen bei der neuen Taskforce der Europäischen Arzneimittelagentur EMA vorgelegt werden. Berichterstatter, Ko-Berichterstatter und der Ausschuss für Humanarzneimittel, in dem auch das Paul-Ehrlich-Institut und Arzneimittelbehörden der anderen EU-Mitgliedstaaten vertreten sind, bewerten sie. Die Daten müssen absolut valide sein. Ob sie ausreichen, können wir noch nicht sagen, das beurteilen wir individuell für jeden Impfstoff. Wie es aussieht, werden wir aber eine Datenbasis von mehreren 10.000 Proband*innen haben. Da können dann Risiken mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 1 zu 1.000 und niedriger erkannt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine noch nicht erkannte Nebenwirkung auftritt, liegt bei deutlich unter 0,1 Prozent.

Fühlen sich die Zulassungsbehörden wegen der öffentlichen Erwartungshaltung unter Druck gesetzt?

Das kann man ausschließen. Der Ausschuss für Humanmedizin bei der EMA, der CHMP, ist ein wissenschaftlicher Ausschuss, der nicht unter politischem Druck steht. Da sitzen Vertreterinnen und Vertreter aus allen europäischen Mitgliedstaaten, und hinter denen stehen große Teams in den jeweiligen Instituten. Wir stellen dort sicher, dass die Impfstoffe eine hohe Qualität aufweisen und unbedenklich sind. Sie müssen sich vor Augen führen, dass in einer Phase-III-Studie randomisiert und doppelt verblindet wird. Das bedeutet, dass die Geimpften und die Impfenden beide nicht wissen, wer ein Placebo und wer einen Impfstoff bekommt. Die Firmen wissen das auch nicht. Die Auswertung ist rein wissenschaftlich und unterliegt keinem öffentlichen Einfluss.

Impfstoffe auf Basis von mRNA, wie die von Biontech oder Moderna, sind noch nie massenhaft eingesetzt worden. Braucht es da nicht besondere Vorsicht?

Diese Vorkehrungen haben wir getroffen. Die klinischen Prüfungen sind besonders groß angelegt, in allen drei Phasen. Und wir haben auch nichtklinische Studien auferlegt, die diese Impfstoffe am Tier untersuchen, mit erhöhter Wirkstoffmenge. Da werden dann alle Organe und physiologischen Parameter untersucht, die irgendwelche Schäden anzeigen können. Auch in den klinischen Studien gibt es begleitende Untersuchungen, um solche Schäden zu erkennen. Bei mRNA-Impfstoffen gibt es bereits Erkenntnisse in der Krebs-Immuntherapie. Die dritte Vorsichtsmaßnahme werden aktive Pharmakovigilanzstudien sein, die wir gerade planen.

Pharmakovigilanz?

Nebenwirkungsbeobachtungen. Die beruhen darauf, dass wir Verdachtsfälle von Impfkomplikationen direkt über unsere Internetseite entgegennehmen. Alle können sich dort melden, wenn sie einen Zusammenhang mit der Impfung vermuten, diese Meldungen werden dann von der Abteilung Arzneimittelsicherheit bewertet. Ärzt*innen, Apotheker*innen und die Unternehmen sind zu den Meldungen ohnehin verpflichtet. Eine Verdachtsfallmeldung bedeutet nicht automatisch, dass die Reaktion von der Impfung verursacht wurde.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Bei der letzten Pandemie gab es den Schweingrippeimpfstoff Pandemrix, bei dem Fälle von Narkolepsie aufgetreten sind – wenn auch in geringem Umfang. Das war bei den Studien nicht aufgefallen. Kann das jetzt auch passieren?

So etwas ist nie völlig auszuschließen, es gibt in keinem Bereich unseres Lebens hundertprozentige Sicherheit. Impfstoffe gehören aber zu den am besten getesteten und sichersten Arzneimitteln und schützen uns etwa vor Meningokokken, Pneumokokken und Influenza. Die Narkolepsiefälle waren nicht vorhersehbar, ein neues Phänomen. Es gibt Hinweise, dass eine bestimmte genetische Disposition das Auftreten begünstigte. Und um die extreme Seltenheit vor Augen zu führen, so tragisch das für die Einzelnen auch ist: Wir reden hier davon, dass die Krankheit normalerweise bei 1 von 100.000 Personen pro Jahr neu auftritt (Inzidenz), nach den Impfungen waren es 4 bis 6 Fälle pro 100.000.

Es könnte sein, dass Impfgegner Videos mit echten oder vermeintlichen Nebenwirkungen ins Netz stellen. Wie kann man das verhindern?

Man muss Transparenz üben in Bezug auf die Nebenwirkungen, die sich gezeigt haben. Wir verlassen uns da nicht auf irgendwelche Videos im Netz. Es gibt Daten, die wir bewerten werden. Die bisher beobachteten Nebenwirkungen bei Covid-19-Impfstoffen waren die, die wir von Influenza-Impfstoffen kennen. Sie sind vorübergehend: Kopfschmerzen, Unwohlsein, Fieber, Schmerz an der Einstichstelle. Wir beurteilen die Schwere, Dauer und Häufigkeit und setzen sie in Bezug zum Nutzen der Impfung. Wir als Institut haben von Anfang an auch die theoretischen besonderen Risiken bei Covid-19-Impfstoffen angesprochen.

Und die wären?

Eine Imbalance der Antikörper­erzeugung oder eine bestimmte Polarisierung des Immunsystems. Wir haben deshalb Untersuchungen an Tieren veranlasst. Auch in den klinischen Studien haben wir entsprechende Untersuchungen auferlegt. Bisher ist keines dieser Risiken zutage getreten. Wir haben aber weitreichende Vorsichtsmaßnahmen getroffen: bestimmte Konformationen des Antigens oder Impfstoffplattformen, die das nicht begünstigen.

Was bedeutet eine Polarisierung des Immunsystems?

Es gibt verschiedene Immunantworten. Wir wünschen uns eine TH1-Antwort. Aus Tierversuchen hatten wir vermutet, dass es eine TH2-Antwort gibt, die das Immunsystem schädigen kann. Das ist aber bisher nicht aufgetreten.

Sind wir in Europa langsamer mit der Zulassung als in den USA?

Nein. Inzwischen gibt es drei gestartete Rolling-Review-Verfahren durch Einreichung von Teildaten bei der Europäischen Arzneimittelagentur. Die Kriterien, die wir bei der Zulassung anlegen, sind ähnlich wie in den USA. Zwischen uns findet kein Wettbewerb um die schnellste Zulassung statt. Im Gegenteil, wir verabreden uns untereinander, momentan gibt es zweiwöchige Telefonkonferenzen mit allen global agierenden Arzneimittelbehörden. Das Paul-Ehrlich-Institut arbeitet in mehreren Gremien der WHO, in denen Fragen zu Covid-19-Impfstoffen behandelt werden. Wir handeln also global abgestimmt und hoffen, dass mehrere Impfstoffe in allen Regionen der Welt zugelassen werden, damit auch genug produziert werden kann. Denn ein Hersteller allein wird den weltweiten Bedarf nicht decken können.

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