Der Demenzkranke loopt Begriffe

Das Verblassen von Erinnerung entspricht dem Löschen von Spuren im Track. Poles neues Album „Fading“ verhandelt das Phänomen des Gedächtnisverlustes und des Vergessens

Auf „Fading“ ist Stefan Betke wieder der Elektroniker von damals, ohne sich dabei selbst zu wiederholen Foto: Ben de Biel

Von Andreas Hartmann

Man trifft sich mit Stefan Betke alias Pole auf dessen Wunsch draußen im Volkspark Friedrichshain. Nicht unbedingt wegen Corona, weil an der frischen Luft die Aerosole so schön verdampfen. Sondern weil er hier gerne spazieren geht, um Abstand von der Arbeit zu finden.

Betke ist Musiker, Produzent von elektronischer Musik und Live-Performer, aber dennoch nicht dazu verdammt, wegen Corona nun sehr viel Däumchen drehen zu müssen. Denn seit über zwanzig Jahren betreibt er neben der künstlerischen Arbeit sein eigenes Masteringstudio, einen einigermaßen coronasicheren Brotjob, bei dem er Aufnahmen anderer Musiker den letzten Schliff verpasst, bevor diese veröffentlicht werden. Fünf Tage in der Woche verbringe er in seinem Masteringstudio, das seiner Wohnung angeschlossen ist. Zum Produzieren eigener Musik komme er eigentlich nur an den Wochenenden, sagt er. Deswegen liegt zwischen seiner neuen Platte „Fading“ und deren Vorgänger nun auch schon wieder eine fünfährige Pause.

Es sei schön, nicht von der eigenen Musik leben zu müssen, sagt Betke. „Man muss sich nicht künstlerisch verbiegen.“ Und wegen Corona ist diese Zweigleisigkeit natürlich erst recht von Vorteil. Er sehe ja bei seiner Lebenspartnerin, wie es ist, wenn man von den eigenen künstlerischen Fertigkeiten abhängig ist. Diese ist DJ und „seit März praktisch ohne Arbeit“.

Obwohl Betke vor „Fading“ so lange kein neues Album herausgebracht hat, ist er in diesem Jahr nun schon zum zweiten Mal als Interviewpartner gefragt. Denn Anfang des Jahres wurden drei Platten von ihm neu herausgebracht, mit denen er sich weltweit einen Namen als Koryphäe des sogenannten Dub-Technos gemacht hat. Die als Trilogie angelegten Werke, die schlicht als „1“ bis „3“ durchnummeriert waren, erschienen rund um die Jahrtausendwende. Sie wurden damals für ihren dubbig elektronischen Minimalismus gefeiert und nun bei der Wiederveröffentlichung nochmals allseits als Klassiker der Berliner Elektronik bestaunt. Für Knackgeräuschelektronik in der Echokammer, dafür gilt Pole seit diesem Dreier als Instanz.

Danach hat Betke seine Musik durchaus in andere Richtungen weiterentwickelt. Er hat mit HipHop experimentiert, er hat sich weg von der Konzentration auf Geräusche fast schon hin zum Beatbastler entwickelt. Nun auf „Fading“ ist er wieder der Elektroniker von damals, ohne sich dabei einfach nur selbst zu wiederholen. Seine Musik dampft nicht mehr ganz so sehr vor sich hin, sondern ist abstrakt und vielschichtig. Eher Jazz als Dub vielleicht.

„Fading“ hat eine konzeptuelle Rahmung, die im Plattentitel bereits angedeutet wird: das Verblassen von Erinnerung. Angestoßen dazu wurde Betke durch die Demenzerkrankung seiner Mutter, die vor zwei Jahren gestorben ist. Die Krankheit warf bei ihm die grundsätzliche Frage auf: „Was passiert, wenn man das ganze Leben lang sein Gehirn wie eine Festplatte füllt und dann langsam alles wieder gelöscht wird?“ Dabei stellt er vorsorglich fest, kein Album produziert zu haben, das die Demenzerkrankung seiner Mutter verarbeiten soll, sondern eher das Phänomen des Gedächtnisverlusts und des Vergessens an sich. So beispielsweise auch bei der Produktion und Rezeption von Musik. „Muss man heute als junger Produzent wissen, was Technopioniere wie Carl Craig einst gemacht haben?“, fragt er rhetorisch, ohne dabei wirklich eine Antwort zu geben.

Muss man als junger Produzent wissen, was Carl Craig einst gemacht hat?

Aber man versteht sehr gut, worauf er hinauswill. Auf die alte Diskussion, ob zu viel referentielles Wissen die eigene Kreativität fördert oder doch eher behindert. Dabei ist er sich sicher, dass es für ihn selbst und seine Art Musik zu produzieren, „bestimmt gut ist, zu wissen, wo Dub oder Jazz herkommen“.

Der Gedächtnisverlust, den Betke bei seiner Mutter am Ende ihres Lebens beobachten musste, wird bei „Fading“ zur Metapher, auch was die eigene künstlerische Arbeitsweise betrifft. „Bei der Demenz bleiben am Ende Fragmente der Erinnerung übrig“, sagt er. Auch er arbeite als Produzent so, dass er erst viele Schichten in seinen Tracks anhäufe, dann aber ein Prozess des Weglassens beginne, viele dieser Schichten wieder gelöscht werden. Bei der Demenz wiederhole man sich außerdem ständig, führt er weiter aus. Seine Mutter habe beispielsweise irgendwann für alles und jeden das Wort „Tölpel“ verwendet – so heißt nun auch ein Track auf „Fading“ – der Demenzkranke loopt also immer wieder bestimmte Begriffe. Und der Loop ist auch eine der bestimmenden Produktionstechniken in der elektronischen Musik.

Der Prozess des Vergessens ist also wichtig bei der Entstehung von Betkes Musik. Würde er sagen, die Fähigkeit vergessen zu können, würde einem auch bei der Verarbeitung dieses schrecklichen Coronajahres helfen? Nein, da ist er anderer Meinung. „Wir wollen einen Krieg ja auch nicht vergessen“, sagt er, „wir müssen lernen aus der Coronakrise.“ Sonst, so glaubt er, werde nach dieser wieder für 50 Euro nach Malle geflogen, als sei nichts gewesen.

Pole: „Fading“ (Mute)