Isolde Charim
Knapp überm Boulevard
: Der
demokratische
Moment schlechthin

Wenn man derzeit in die USA blickt, dann erinnert die Situation an das, was man altgriechisch als Stasis bezeichnet hat. Das bedeutet Stillstand, Unbeweglichkeit, Spaltung der Polis. Die französische Historikerin Nicole Loraux aber hat daran erinnert, dass dieses Wort einen Gegensatz in sich trägt. Denn Stasis bedeutet auch Bewegung, Aufruhr, Aufstand.

Man kann ja schon länger in den USA eine Art Stammespolitik beobachten, die nicht mehr das ganze, sondern nur das halbe Volk umfasst. Eine extreme Spaltung: Zwei halbe Völker, die sich gegenseitig in Schach halten. Ein bedrohlicher Stillstand, da sie sich auch gegen die andere Hälfte in Stellung bringen. Es ist dies die Gleichzeitigkeit der Doppelbedeutung. Eine Stasis, in der das gespaltene Volk bewegt und paralysiert zugleich ist.

Bisher kannte man das als gesellschaftliches Phänomen. Aber seit den Wahlen in den USA kann man das erstaunliche Phänomen von Parallelstaaten beobachten. So hat etwa der Tag der US-Veteranen zu erstaunlichen Bildern geführt. Trump am Nationalfriedhof in Virginia. Biden an jenem in Philadelphia. Beide bei der Kranzniederlegung. Beide salutieren. Beide ganz präsidentiell. Parallelstaaten in der Inszenierung. Aber auch institutionell. So verweigert die zuständige Behörde dem Wahlsieger Biden nach wie vor das formelle Schreiben zur praktischen Amtsübergabe. Der Justizminister autorisierte die Untersuchungen der Auszählung wegen Wahlbetrugs. Und Außenminister Pompeo versprach einen „reibungslosen Übergang – zur zweiten Trump-Regierung“.

Ist das nun ein Staatsstreich, wie etwa der Historiker Timothy Snyder meint, oder ist es die Parodie eines Staatsstreichs, wie die New York Times schreibt? Ob Putsch oder Parodie – die Auswirkungen dieser neuesten Trump-Skurrilität sind keineswegs lustig.

Wie jeder weiß: Wahlen sind das Herzstück der Demokratie. Sie garantieren, dass demokratische Machthaber nur vorübergehende Statthalter sind. Sie garantieren, dass es nur wechselnde Besetzungen der Macht gibt – und keine dauerhaften Vereinnahmungen. Deshalb ist der Moment der Machtübergabe der demokratische Moment schlechthin. Beides, Abschied von und Übernahme der Macht, sind immer geprägt von ihrer Vorläufigkeit.

Trump hat aber bereits vor der Wahl begonnen, diese zu untergraben. Indem er sie umcodiert hat: Er meinte – wie schon 2016 –, er werde das Wahlergebnis nur im Falle seines Sieges akzeptieren. Er hat die Wahlen also schon im Vorfeld aus einer Entscheidung der Wähler in eine Akklamation des Publikums uminterpretiert, in eine jubelnde Zustimmung. Und nun, wo der Jubel nicht gereicht hat (obwohl er nach wie vor sehr groß ist), spricht er von „legalen Stimmen“ im Unterschied zu illegalen. Ein Wechsel von der Quantität zu einer Qualität der Stimmen.

Wenn Trump also seine Niederlage nicht akzeptiert – in seinem System, in seiner Wahrheit ist eine solche nicht vorgesehen. Dann heißt das: Er akzeptiert die Fakten nicht. Hier zeigt sich die ganze Destruktivität der Rede von „Fake News“. Auf den Staat übertragen untergräbt diese Rede das Fundament der Demokratie. Wenn Rudy Giuliani in seiner bereits legendären Pressekonferenz nicht nur das Haarfärbemittel herunterrinnt, sondern er anstelle von Beweisen für den behaupteten Wahlbetrug meint: Ich kann Verbrechen riechen – dann wird das untergraben, was doch die gemeinsame Grundlage sein sollte: das demokratische Minimum. Und das ist eine geteilte Vernunft.

Das Perfide und Aussichtslose dabei ist: Diese Stasis verwandelt alle Politik in Stammespolitik. Da gibt es keine umfassenden politischen Konzepte mehr. Ob Bürger oder Demokratie. Sie alle werden in dem rasenden Stillstand aus umfassenden Begriffen in partikulare verwandelt. Das ist der Verlust aller modernen Kollektivkonzepte.

Und egal wie das ausgeht: Ob es den Republikanern doch noch gelingt, durch juristische Kniffe eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Wahlen zu erzwingen – oder ob es für Trump keinen konstitutionellen Weg gibt, im Amt zu bleiben: Die Stasis wird bleiben.

Die Autorin ist freie Publizistin und lebt in Wien.