Lyrik kann auch Preise kriegen

Marion Poschmanns Gedichtband Nimbus erhält im kommenden Jahr den 67. Bremer Literaturpreis

Foto: Silas Stein/dpa

Von Benno Schirrmeister

Was weggemacht werden muss, was übersehen wird, ist wahrscheinlich immer schon das Zubehör magischer und lyrischer Übungen: Knochen etwa, Mineralien oder auch „zartgeäderte Flechten, die wie eine aufgeschnittene Druse/ das Innere des Gesteines zeigten“, wie Marion Poschmann Caloplaca crenulatella besingt, die Bordsteinflechte. In diesem Aufwuchs auf dem Straßenpflaster, eine Oberfläche der Oberfläche des Steins, den sie besiedelt, zeigt sich auf rätselhafte Weise eine Innenwelt. Oder wäre das eine Täuschung? „Als begriffe ein Fleck,/ wie es um mich stand“, geht Poschmanns Ode an die Bordsteinflechte im Irrealis weiter, wie unwahrscheinlich ist das denn?

Die Wahrnehmung verunsichern, das mindestens vermögen die Gedichte von Poschmanns Lyrikband „Nimbus“, und das ist viel, vielleicht das einzige, was Literatur vermag, wenn sie nicht bloß sediert. Deshalb trägt er der Autorin zurecht den Bremer Literaturpreis 2021 ein: Selten nur und mit sinkender Tendenz lässt sich dessen Jury darauf ein, einen Gedichtband auszuzeichnen; Poschmanns Werk eingerechnet waren es nur drei in den vergangenen zwei Jahrzehnten, 14 seit 1954. Lyrik gelingt es offenbar nur selten, die vielseitige narrative Belletristik zu übertönen. Als umso wertbeständiger haben sich die entsprechenden Entscheidungen erwiesen: Poschmann setzt eine Reihe fort, die mit Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Helga M. Novak begonnen hatte. Und das Verrückte ist: Das hört sich nicht unangemessen an oder verwegen, sondern völlig legitim. Das liegt sicher auch daran, dass Poschmann sowohl einen bewundernswerten Blick fürs Detail des Kleinsten hat als auch keine Scheu vorm Kolossalen. Vor allem aber fesseln ihre Gedichte, weil sie mit Lust die mantischen Qualitäten des Worts ins Spiel bringen, aber sehr leichtfüßig von diesen erhabenen Klippen des Aberglaubens ins Lächerliche der durchrationalisierten Gegenwart hüpfen. Und zurück: „Noch gestern hielt ich mich in tiefverschneiten /Bergen auf“, so fängt pathetisch der Band an. „Jetzt sind sie eingeebnet“, geht’s klimakatastrophal dramatisch weiter – und zerschmilzt im programmatisch platten Vergleich: „aufgelöst, ganz schlicht, so wie man/ einen Kühlschrank abtaut.“

Kühlschränke abtauen ist hygienisch: Wenigstens etwas Gutes hat die Krise eben doch. Und für Lyrikfeinde: Den Förderpreis kriegt Jana Volkmann für den Roman „Auwald“.

Preisvergabe: 18. Januar 2021, Obere Rathaushalle