Nicht überall
ist es
still

Europa ist im zweiten Lockdown. Die Regeln sind in in Rom, Paris und Berlin sehr unterschiedlich. Aber auch das Verhalten der Menschen, auf die es vor allem ankommt, unterscheidet sich. Derweil steigt die Zahl der neuen Fälle weiter an

Ausgangssperre in Rom: Die Spanische Treppe ist verwaist Foto: Remo Casilli

In Berlin meldete die Senatsverwaltung für Gesundheit am Samstagabend 697 neue Fälle. Die 7-Tages-Inzidenz liegt bei 188,9.

Die Zahl der neuen Corona-Infektionen betrug in Brandenburg am Sonntag 365. Am Vortag waren es 409 Fälle. Von Donnerstag auf Freitag waren es erstmals mehr als 500 Neuinfektionen binnen 24 Stunden und damit so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie im März. Die 7-Tages-Inzidenz liegt bei 98,7.

In Deutschland wurden am Sonntag 16.017 neue Fälle gemeldet. Die 7-Tages-Inzidenz liegt bei 135,6.

Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) befindet sich zudem in Quarantäne. Das teilte sie am Samstagabend bei Twitter mit. Sie sei als Kontaktperson eines Infizierten genannt worden und werde noch bis Freitag ihre Amtsgeschäfte aus dem Homeoffice führen

Italien meldet 39.811 Neuinfektionen – ein Rekord – und 425 Todesfälle. Insgesamt sind damit etwa 902.490 Infektionen und 41.063 Tote verzeichnet. Die 7-Tages-Inzidenz liegt bei 369,6.

In Frankreich liegt die 7-Tages-Inzidenz mit 483 noch höher. Der tägliche Anstieg betrug zuletzt 50.000.

Am Abend gehen die Rollläden runter

Aus Rom Michael Braun

Alles ist eigentlich wie immer an diesem Samstagvormittag in Rom. Bei strahlend blauem Himmel, bei lauen 20 Grad sind die Straßen voller Passant*innen, schieben sich die Menschen über die Märkte, streben Familien mit Kleinkindern und Jogger*innen dem nächsten Park zu. Die Tische draußen auf der Piazza, vor den Bars, sind gut besetzt, die einen trinken Espresso, die anderen Aperol Spritz.

Noch ist Rom, anders als Mailand oder Turin im Norden, nicht im Lockdown. Alle Geschäfte können vorerst offen bleiben, auch die Restaurants empfangen mittags Gäste. Doch auch in Rom ist die zweite Welle der Pandemie angekommen. Spätestens nach 18 Uhr wird das deutlich, wenn die komplette Gastronomie die Rollläden runterlassen muss, wenn weder in Kinos noch in Theatern oder Konzertgebäuden die Lichter angehen: So gut wie jedes Abendvergnügen ist per Verordnung gestrichen, auf dass die Römer*innen brav zu Hause bleiben. Ab 22 Uhr dann dürfen sie gleich gar nicht mehr vor die Tür, wenn sie nicht eine Geldbuße von 400 Euro riskieren wollen.

Doch auch über Tag fällt auf, dass die Zeiten alles andere als normal sind. Am Eingang wirklich jedes Geschäfts, jedes Supermarkts stehen die Spender mit den Desinfektionsmitteln, und die Kund*innen machen reichlich Gebrauch davon. Keiner muss sie anweisen, die Gesichtsmasken aufzusetzen – die haben sie nämlich schon auf. Außer in den eigenen vier Wänden ist der Mund-Nasen-Schutz in ganz Italien immer Pflicht, nur die Kleinen unter sechs Jahren bleiben ausgespart.

Und so gut wie alle halten sich daran, nur gelegentlich sieht man einen Opa, der das Teil unter der Nase trägt, oder eine Raucherin, die sich ein paar Züge gönnt, ehe sie sich brav wieder vermummt. Maskenverweiger*innen sind in Rom ebenso Mangelware wie lautstark protestierende Conora­leugner*innen.

Gewiss, in den letzten Wochen gingen Unternehmer*innen aus der Gastronomie, Künstler*innen oder Taxifahrer*innen immer wieder auf die Straße. Doch sie demonstrierten jedes Mal mit Gesichtsmasken, unter Einhaltung des Mindestabstands, und ihnen geht es nur um eines: um Hilfen des Staates, damit sie das Coronadesaster überstehen können.

Als dagegen am letzten Samstag die faschistische Organisation Forza Nuova zur Kundgebung gegen die „Coronadiktatur“ aufrief, bekam sie gerade einmal an die hundert Menschen zusammen. Den Römer*innen reichen die Bilder von den Schlangen der Ambulanzen, die oft stundenlang vor den Notaufnahmen der Krankenhäuser warten müssen, um sich davon zu überzeigen, dass das Virus keine Erfindung ist.

Trickreich gegen das Reconfinement

Aus Paris Rudolf Balmer

Die Regeln sind klar und streng in Frankreich. Weil das abendliche Ausgehverbot zwischen 21 Uhr und 6 Uhr früh offenbar so gut wie keine Wirkung auf die rasante Ausbreitung des Coronaviraus gezeitigt hatte, wurde ein „Reconfinement“ angeordnet. Auf Englisch heißt dies „Lockdown“ und bedeutet konkret Hausarrest für alle, die nicht unbedingt außer Haus arbeiten und nicht in Heimarbeit tätig sein können.

Immerhin sind dieses Mal die Schulen vom Kindergarten bis zur Abiturstufe offen. Das ist nur ein Grund, der erklären kann, warum zurzeit deutlich mehr Leute auf den Straßen von Paris zu sehen sind als bei der ersten Auflage des Lockdowns im Frühling. Auf einem Formular, das sie für Kontrollen mit sich tragen müssen, sind mehrere Ausnahmefälle vorgesehen. Mit der Auslegung nehmen es die BewohnerInnen der Hauptstadt locker. Im Prinzip wäre ihnen nur eine Stunde draußen im Umkreis von einem Kilometer erlaubt.

Und sie sind nicht die Einzigen, die schummeln. Alle Geschäfte, die nicht lebenswichtige Dinge verkaufen, müssten eigentlich geschlossen sein. Doch sind denn Blumen oder Bücher nicht genauso unentbehrlich wie ein Cordon bleu oder ein Croissant?

Die bekannte Librairie Tschann am Boulevard Montparnasse bleibt wie andere Buchhandlungen aus Protest geöffnet. So wollen sie erklärtermaßen verhindern, dass die Kunden zu Amazon und anderen Online-Unternehmen ausweichen.

Die Buch- und Blumenhändler haben zudem eine Lücke entdeckt: Sie bieten einen „Click and Collect“-Service an. Grundsätzlich müsste man per Telefon oder Internet bestellen, bezahlen und dann die Bücher oder die Blumen an der Geschäftstür abholen. Niemand kann das überwachen. Darum wird gemogelt: Statt nur Vorbestelltes abzuholen, wird mit der nötigen Diskretion auch direkt verkauft.

Weit schlimmer und sträflich ist hingegen ein bandenmäßig organisierter Betrug, der von der Polizei im Pariser Flughafen Roissy aufgedeckt wurde: Fast zufällig fiel dort auf, dass unter den negativen Testzertifikaten, welche die Passagiere beim Besteigen der Maschine vorweisen müssen, gekonnt gefälschte Dokumente waren. Diese wurden ihnen, wie herauskam, für rund 150 Euro unter der Hand verkauft. Da hört jedes Verständnis auf.

Weniger Panik als im Frühjahr

Aus Berlin Anna Klöpper

Die Menschen bekommen langsam Übung im Umgang mit der Pandemie, ein gewisser Pragmatismus – oder ist es Stoizismus? – macht sich breit. Das ist vielleicht das, was den zweiten, nur teilweisen Lockdown, den wir in Berlin seit dem 2. November haben, vom ersten, weitaus umfassenderen „Herunterfahren“ des öffentliche Lebens im Frühjahr unterscheidet.

Diese Unaufgeregtheit ist Fluch und Segen zugleich für die Pandemiebekämpfung. Der Inzidenzwert ist in den vergangenen Tagen in Berlin beständig gestiegen.

Zudem schmilzt der Platzpuffer auf den Intensivtationen beängstigend schnell dahin, vergangene Woche waren erstmals mehr als 15 Prozent Intensivbettenplätze mit Covid-PatientInnen belegt.

Doch die Leute genießen draußen scheinbar unbeeindruckt die Herbstsonne, und nicht mehr jeder Smalltalk vorm Bäcker, unter Nachbarn, vor der Kita dreht sich um das eine Thema. Und weil man weiß, dass inzwischen Aerosole das Risiko sind, nimmt der Bäcker das Bargeld auch wieder, ganz ohne zu schimpfen.

Das ist allgemein gut für das seelische Gleichgewicht – und macht sich vielleicht auch daran fest, dass das Klopapier noch nicht wieder überall ausverkauft ist. Es ist einfach weniger Panik in der Luft.

Dafür aber eben leider doch noch eine ganze Menge dieser verdammten, potenziell virenbehafteten Aerosole. Und weil so vieles – Kitas und Schulen noch offen, Geschäfte auch – noch dem Anschein der Normalität genügt, ist der Verzicht auf das, was nicht mehr geht, umso schwieriger zu erklären. Warum lässt man die Shoppingtempel offen und schließt die Theater? Warum darf man sich ein Auto kaufen, aber keinen Kaffee mehr am Tisch trinken, wo doch die Gastronomie so tolle Hygienekonzepte aufgelegt hat und wir doch alle längst Abstand halten? Warum sind die Kirchen offen, aber die Kinos nicht?

Unlogisch sei das, schimpfte neulich eine Mutter auf dem Spielplatz, nicht nachvollziehbar. Ja, das stimmt – logisch ist das nicht, warum die Kirchen auf sind und die Kinos dicht. Aber wenn man die Kontakte insgesamt herunterfahren und Begegnungen zwischen Menschen beschränken muss, muss man eben irgendwo ansetzen. Wo, das ist dann eine politische Entscheidung – in Berlin trifft es die Kultur und die Gastronomie.