Rückblick auf 40 Jahre taz Berlin (II): Die goldenen 90er

Der Fall der Mauer öffnete Kreativen einen Spielplatz der Möglichkeiten in Ostberlin. Doch die Stadt und ihre Bewohner hatten ein Geldproblem.

Tanzende Menschen im Tresor hinter Gittern

Im Techno-Club Tresor konnte man in den ehemaligen Tresorräumen hinter Gittern tanzen Foto: Christian Stock/imago

Die taz Berlin wird 40 Jahre alt. Dies ist der zweite von vier Texten, in denen wir auf die Entwicklung der Stadt und der Zeitung zurückblicken. Und fragen: Was bleibt? Der erste Text steht hier.

BERLIN taz | Es gibt einen Film, der das Lebensgefühl im Berlin der 90er auf eine Weise auf den Punkt bringt, die ziemlich selten ist. Der Film heißt „Das Leben ist eine Baustelle“, stammt aus dem Jahr 1997, und Regisseur Wolfgang Becker wurde sechs Jahre später viel mehr für seinen Film „Good Bye, Lenin!“ gefeiert.

„Das Leben ist eine Baustelle“ erzählt eine Liebesgeschichte zwischen einem jungen Berliner und einer jungen Zugereisten. Er (Jürgen Vogel) trägt Jeansjacke mit Lammfellimitat und hält sich mit Jobs in Schlachthof und Supermarkt über Wasser. Sie (Christiane Paul) trägt lange Schals und Baskenmütze, macht experimentelles Theater und stellt die Nahrungsaufnahme sicher, indem sie sich selbst zu Büffets von irgendwelchen Kongressen einlädt.

Sie haben unheimlich viel gemein, diese zwei, und doch trennt sie sehr viel. Aber das hat mit dem Mauerfall schon damals nur noch herzlich wenig zu tun. Eigentlich fragt man sich während des Films kaum, ob die Figuren aus dem Osten oder aus dem Westen kommen. Man fragt sich eher, welches Verhältnis die beiden eigentlich zum Geld haben, das ständig fehlt. Für sie, die Bohemienne, scheint es einfach kein Thema zu sein. Er dagegen, das Arbeiterkind, weiß, dass Geldmangel keine gute Idee ist, wenn man so wenig wie möglich mit Geld am Hut haben will.

Berlin war nach dem Mauerfall für viele junge Leute ein Abenteuerspielplatz mit gigantischer Anziehungskraft – und zwar egal, ob man aus der DDR oder BRD kam. Plötzlich gab es in Ostberlin derart viele Brachen, leer stehende Gebäude, Ruinen, dass sich, wie der Berliner Fotograf Martin Eberle einmal sagte, jeder „einfach irgendwo ein Loch suchen und da seine Musik anmachen konnte“.

Man musste nur eine Woche lang nicht im Berliner Stadtteil Mitte unterwegs gewesen sein, und schon war in irgendeinem Keller, in einer Garage oder einem ehemaligen Bunker eine neue Bar, Galerie oder Kneipe mit ulkigem Namen wie Dienstagsbar, Bügelbar oder Im Eimer entstanden.

Es war die große Zeit der Improvisation und des Selberbastelns. In manchen Läden kostete der Caipirinha 2 Mark – und es kam trotzdem niemand. Andere hat so mancher oft besucht und nie von innen gesehen, weil es immer zu voll war und der beste Teil der Party, so beschloss man es dann halt, vor der Tür stattfand. Zum Beispiel war das so in der Galerie Berlintokyo in einem Hinterhof der Rosenthaler Straße. Der Club wurde 1996 von Designer, Unternehmer und Autor Rafael Horzon gegründet, um Werke angeblich unbekannter japanischer Künstler auszustellen, die in Wirklichkeit gar nicht existierten.

Überall herrschte chaotische Zwischennutzung und nebensächliche Nische; stets ging es ziemlich unsortiert zu. Berlin war viel mehr als die Hauptstadt der großen Techno-Schiffe E-Werk, Tresor und Loveparade – der coolen Läden wie Tacheles, WMF und Friseur, die in allen möglichen Büchern, Texten und Filmen sehr schön und treffend beschrieben worden sind, unter anderem von taz-Kollegen Ulrich Gutmair, unter anderem auf der Kulturseite des Berlinteils der taz.

Dimitri Hegemann, Tresor-Chef

„Geld war damals kein Thema – man machte einfach. Man hat das überhaupt nicht so wirtschaftlich berechnet“

Allein schon, wie es damals zuging: Auch als gänzlich unerfahrene freie Autorin bekam man dort fast jede Lesung, jeden Ort und jedes Phänomen unter, solange die Redakteurin oder der Redakteur noch nichts davon gehört hatte. Der 2007 verstorbene Redakteur Harald Fricke erzählte eigentlich allen, die es hören wollten, Journalistenschüler seien in dieser Redaktion nicht so gern gesehen: Sie seien einfach zu aufgeräumt, zu routiniert.

Ziemlich zusammengewürfelt standen skurrile Alltagsbeschreibungen neben Porträts von temporären Bands und Künstlern, die beispielsweise Teppiche aus Socken webten. Aus taz-Perspektive könnte man sagen, dass die Einführung der „Berliner Szenen“ im März 2000, einer Rubrik mit Alltagsbeobachtungen, das Ende der 90er in Berlin einläutete – denn nun war eine Hierarchie gefunden. Das Unwichtige durfte nur noch am Rand passieren. Das vermeintlich Bedeutsame rutschte nach oben.

Aber hat die taz auch berichtet, was außerhalb der Kulturszene in den 90ern passierte? Dimitri Hegemann, der Erfinder des Tresors, hat einmal gesagt: „Geld war damals kein Thema – man machte einfach. Man hat das überhaupt nicht so wirtschaftlich berechnet.“ Aber so ging es natürlich nicht jedem, wie der Film „Das Leben ist eine Baustelle“ eben zeigt: Während das Mädchen, so sympathisch sie auch rüberkommen mag, mit der ökonomischen Not spielt, muss der Junge ackern und buckeln, um wenigstens etwas zu beißen zu haben.

In den Jahren 1991 bis 2003 verschwanden in Berlin 300.000 Industriearbeitsplätze. Der Abbau der Doppelverwaltung binnen kürzester Zeit hat noch mal viele Stellen gekostet. Die Arbeitslosigkeit stieg kontinuierlich an und erreichte 2005 mit über 19 Prozent ihren Höchststand. In Ostberlin wurde die Industrie fast restlos zerschlagen, Betriebsschließungen und Massenentlassungen gehörten zum Alltag.

Und im Westteil zogen viele Betriebe weg, weil die Berlinzulage als Ausgleich für die Inselsituation obsolet geworden war. Die Verschuldung der Stadt stieg von 5,5 Milliarden Euro im Jahr 1989 auf erschreckende 38 Milliarden Euro im Jahr 2001. Noch 2004 war das Bruttoinlandsprodukt der Stadt sogar niedriger als 1991.

Vielen war lange nicht bewusst, dass die Menschen nicht nur in Ostberlin um ihren Platz in der Stadt rangen. Die türkischen Einwanderer, die sich in der Mauerstadt vergleichsweise gut eingerichtet hatten, wurden plötzlich in großer Zahl arbeitslos und hatten mit neuem Rassismus zu kämpfen.

Wichtigstes Ding der 90er: Flyer, die in Kneipen, Clubs und auf Konzerten auslagen und auf Kneipen, Clubs und Konzerte hinwiesen

Zitat der Dekade: „Los geht’s, Vollgas, nicht gezaudert und alles ausprobiert, auf Gedeih und Verderb.“ Der Schriftsteller Rainald Goetz in seiner 1998 erschienenen Erzählung „Rave“ über das Nachtleben in den 90ern in Berlin und anderswo

Überschrift der Dekade: „Karl und Rosa sollen vom Stadtplan verschwinden“ vom 20. Dezember 1993. Die Verkehrsverwaltung will 14 Straßen umbenennen

Ort: Das Tacheles, Einkaufszentrumsruine und von Besetzern eröffnetes Künstlerhaus. Stand aber später in jedem Reiseführer

Datum: 13. Juli 1996. Zur Loveparade kommen 500.000 Menschen; Greenpeace, Christen („Rave for Christ“) und Studierende („Protest gegen Finanzkürzungen“) nehmen mit Wagen teil. (taz)

Während sich viele Ostdeutsche, die an die sozialistische Kollektivvorsorge gewöhnt waren, für ihre Arbeitslosigkeit persönlich verantwortlich fühlten, wurden viele Türkischstämmige nicht mehr eingestellt, weil den deutschen Arbeitssuchenden der Vorrang gegeben wurde.

Erst vor Kurzem, am 30. Jahrestag der deutschen Einheit, berichteten die taz-Kolleginnen Manuela Heim und Alke Wierth im taz-Berlinteil, dass die Stadt vielleicht heute weniger in Sachen Habitus und Verständnis zusammengewachsen ist als in Sachen Armut. Denn die Armut hat sich in Berlin auch wegen der verrotteten Schulen verfestigt. Laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 2019 gehört Berlin mit Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zu den vier Bundesländern mit den höchsten Armutsquoten in der Bundesrepublik.

Aber natürlich war die die Armut, die damals entstand, auch schon in den 90ern Teil der Berichterstattung im Berlinteil der taz. Im Archiv finden sich zahlreiche Texte über die größer werdende Einkommensschere, den Anstieg von Kinderarmut und Verelendung in den Innenstädten, über die Forderung nach kleinen Schulklassen in Problembezirken, zunehmende Frauenarbeitslosigkeit, Suchtambulanzen, Obdachlosenzahlen.

Ein paar der schönsten Artikel sind im Rahmen der kleinen Serie „Sind Sie beschäftigt?“ im Sommer 1998 erschienen. Darin ließ die 2018 verstorbene taz-Kollegin Barbara Bollwahn Arbeitslose, Unternehmer, Krankenschwestern und Rentner zu Wort kommen. Sie sprechen sehr eindrücklich über ihre Arbeit, ihre Arbeitsmoral und die Berliner Arbeitslosenzahlen.

Das Land machte Ausverkauf mit seinen Grundstücken

Die unzähligen Freiräume, von denen die Berliner Kreativen so sehr profitierten, entstanden also nicht nur wegen der ungeklärten Besitzverhältnisse und des Zusammenbruchs der Verwaltungen in Ostberlin, sondern auch weil einfach niemand in dieser Stadt Geld in die Hand nehmen konnte oder wollte. Der Leerstand wurde derart eklatant, dass die Stadt viele Liegenschaften verkaufte, die sie heute sehr gern zurückhätte. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung rief noch 2007 in ihrer Verzweiflung das Konzept Zwischennutzung zum Gebot der Stunde aus. Damals lagen mehr als 5.000 Grundstücke brach.

Das zog viele Kulturschaffende in diese Stadt, ohne dass sie diese Zusammenhänge unbedingt immer erkannt hätten. Wenige von ihnen fragten danach, ob ihre Freiheit auch die Freiheit der anderen war, also die Freiheit jener, mit denen man oft nur in Filmen wie „Das Leben ist eine Baustelle“ in Berührung kam. Anders gesagt: Armut ist nur sexy für jene, die die Wahl haben, auch wieder aus ihr rauszukommen.

Eine der wenigen, die fragte – wenn auch erst in der Rückschau –, war die Autorin Anke Stelling, die 1991 nach Berlin gekommen ist. Damals, sagt sie, habe es selbst noch im gutbürgerlichen Westbezirk Charlottenburg nach Braunkohle gestunken.

Stelling erzählt in ihrem Buch „Bodentiefe Fenster“ aus dem Jahr 2015 vordergründig von einer Baugruppe in Prenzlauer Berg, eigentlich aber von einem großen Berliner Versprechen der 90er: dass nämlich hier, in dieser tollen Aufbruchzeit voller Leichtigkeit und Unbeschwertheit, alle gleich waren; dass sich alle gleichermaßen wenig für Finanzielles interessieren mussten und daher alle die gleichen Möglichkeiten hatten, sich ohne Rücksicht auf Verluste selbst zu verwirklichen.

Baufällige Gebäude und wild bewachsene Freifläche am S-Bahnhof Hackescher Markt in Berlin-MitteBaufällige Gebäude und wild bewachsene Freifläche am S-Bahnhof Hackescher Markt in Berlin-Mitte

Die Tristesse ist auch ein Versprechen: der Hackesche Markt im Juli 1994 Foto: Tobias Seeliger/imago

Dieses Versprechen enttarnt Anke Stelling als saftige Lüge. Schon Anfang der 90er machte es einen Riesenunterschied, welchen Hintergrund man hatte, und zwar auch innerhalb der Szene selbst. Und während die mit dem richtigen Hintergrund, die mit den schlauen Eltern, die schon vorm Immobilienboom eine kleine Eigentumswohnung für den Nachwuchs erstanden hatten, darüber Bescheid wussten, fuhren die mit dem falschen Hintergrund entweder sofort oder auch erst ein paar Jahre später oft krachend an die Wand. Sie merkten plötzlich, dass das prekäre Leben mit zunehmendem Alter oder mit Kindern nicht einmal mehr ansatzweise funktioniert. Viele von ihnen wurden aus der Stadt verdrängt.

Im Grunde schreibt Anke Stelling, wenn auch natürlich viel komplexer, aus der Perspektive des Jungen in „Das Leben ist eine Baustelle.“ Für ihn geht es anders als für das Mädchen mit der Baskenmütze ums Eingemachte. Am Ende fährt sie zufällig in einer Tram an ihm vorbei. Er rennt ihr in einem lächerlichen Kükenkostüm hinterher, das er für ein paar Mark die Stunde zur Neueröffnung einer Parfümerie anziehen sollte, und stellt sie zur Rede, endlich. „Was willst du eigentlich von mir?“, schreit er sie mitten in der Tram an, mit seinem gelben Kükenkopf unterm Arm. „Ist das so 'ne Art netter Spaß für dich?“

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schreibt mit einigen Unterbrechungen, unter anderem durch einen Aufenthalt in China, seit dem Jahr 1995 für die taz berlin.

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