Politökonomin Maja Göpel über Ideologie: „Wir wird wichtiger als Ego“

Mit „Unsere Welt neu denken“ landete sie einen Bestseller. Wird postfossil der neue Mainstream? Und wie reagieren die Bewahrer der alten Welt?

Maja Göpel steht am Spreeufer

Die Wissenschaftlerin Maja Göpel im Berliner Regierungsviertel Foto: Anja Weber

taz am Wochenende: Frau Göpel, Sie sind Wissenschaftlerin, Politökonomin. Ihr Twittername ist „Beyond Ideology“, „Jenseits von Ideologie“, warum betonen Sie das?

Maja Göpel: Ideologien sind geschlossene Weltbilder. Die helfen uns nicht weiter in liberalen, aufklärungsorientierten Gesellschaften mit einem hohen Anspruch an ihre Innovations- und Erneuerungsfähigkeit. Denkmuster zu hinterfragen, ist deshalb auch eine emanzipatorische Agenda. Einer meiner liebsten Theoretiker ist Antonio Gramsci. Er hat das Konzept der Hegemonie geprägt. Es berücksichtigt die Rolle von Kultur und dominanten Erzählungen in einer Gesellschaft, um die Legitimation von Machtverhältnissen zu analysieren. Es ist also wichtig, die Art, wie wir auf die Welt schauen, als Analysekategorie mit reinzunehmen. Die bis vor Kurzem hegemoniale Erzählung beschrieb eine Gesellschaft, deren Wirtschaft trotz ökologischer Grenzen immer mehr produzieren kann. Damit musste auch nicht zu stark über die Verteilung von Freiheiten, Privilegien und Besitz diskutiert werden.

Warum ist diese Hegemonie vorüber?

Weil die Empirie die Entkopplung von ökonomischem Wachstum und Ressourcen nicht in ausreichendem Maße bestätigen kann und die ungleiche Verteilung weiter zunimmt, selbst in Krisen wie der aktuellen. Ohne tiefen Strukturwandel und die Veränderung von Konsummustern wird es nicht gehen – jedenfalls ist mir noch keine Studie untergekommen, die das plausibel darlegt.

Sie stehen im Zentrum des Mainstreams von Wissenschaft und Gesellschaft, die sich verpflichtet hat, das Klima-Abkommen von Paris umzusetzen. Manche Medien und auch Regierungspolitiker tun aber so, als sei das nicht Regierungsauftrag, sondern radikales Ökospinnertum.

Ja, interessant, oder? Wenn Empfeh­lungen aus der Wissenschaft heute radikal erscheinen, dann ist das im Prinzip ein Zeichen dafür, dass wir die warnenden Analysen viel zu lange viel zu wenig ernst genommen haben. Sonst wären wir mit kleineren Schritten auch noch ans Ziel gekommen. Jetzt be­finden wir uns also an dem sehr spannenden Punkt, an dem die Hegemonie der Entkopplungserzählung zerbrochen ist und die des Trickle-down gleich mit.

Also, dass der Wohlstand der Reichen nach unten sickert und alle was davon haben.

Damit kommen diejenigen unter Legitimationsdruck, die den Status quo der kleinen Adaptionen trotzdem beibehalten wollen. Da kann es schon kommod sein, die Übermittler der Analysen als Interessenvertreter für eine bestimmte Klientel abzustempeln.

Sie spielen darauf an, dass einige Journalisten Sie als Umweltaktivistin und Grünen-Vordenkerin framen, also als Partei. Was geht da vor sich?

Das müssen Sie die jeweiligen Personen fragen, mir haben sie auf diese Frage nicht geantwortet.

Gleichzeitig versuchen klassische Linke, das ideologisch als „links“ zu rahmen oder gar den guten alten Metadiskurs zu führen, etwa Katja Kipping mit ihrem schneidigen „Klimaschutz oder Kapitalismus“. Was halten Sie davon?

Gar nichts. Jedes weitere binäre Festfahren in Gegensatzpaaren und vermeintlichen Unvereinbarkeiten wirkt in einer sowieso schon sehr gestressten Gesellschaft sicher nicht darauf hin, dass wir demokratische Lösungen für diese Krisen finden. Statt große Kategorien in Stellung zu bringen, sollten zentrale politische Stellschrauben identifiziert werden, die Umweltschutz und soziale Ziele zusammenbringen.

„Die hegemoniale Erzählung beschrieb eine Gesellschaft, deren Wirtschaft trotz ökologischer Grenzen immer mehr produzieren kann. So musste kaum über die Verteilung von Freiheiten und Besitz diskutiert werden“

Sind Wissenschaftler manchmal auch zu wehleidig, wenn sie tatsächlich eine große Öffentlichkeit erreichen und laute und nicht immer fundierte Reaktionen bekommen?

Das habe ich auch schon gehört. Wenn jemand meine Arbeit nicht überzeugend findet, fein. Dann bitte auf die Inhalte argumentieren. Aber meine Unabhängigkeit infrage zu stellen oder mir Dinge anzudichten, die ich so nie gesagt habe, das geht mir zu weit. Mir macht es sehr große Sorgen, wie diese Gleichung „wer Öffentlichkeit annimmt, muss eben mit Diffamierung umgehen“ zunehmend vorgetragen wird – insbesondere von denen, die so arbeiten.

Die liberale Demokratie hat nach 1989 nicht das Paradies für alle gebracht und deshalb Konkurrenz durch illiberale und autoritäre Angebote bekommen. Klimapolitik interessiert aber auch manch emanzipatorische Bewegung nicht groß und wird von bestimmten Liberalen als autoritär verstanden. Was sagen Sie denen?

Aus meiner Sicht haben wir es auch mit einer illiberalen Demokratie zu tun, in der das „Wir“ im „Ich“ zu klein geworden ist. Freiheit geht mit Verantwortung einher, Privilegien mit Verpflichtungen. Das sind grundlegende Prinzipien des Liberalismus und so steht es im Grundgesetz unserer sozialen Marktwirtschaft. Auch eine unsichtbare Hand als Marktmechanismus kann nur funktionieren, wenn die Preise in etwa die Kostenwahrheit abbilden und ein gewisses Maß an Gerechtigkeit in der Verteilung von Informationen, Bildung, Geld, Besitz und Macht nicht unterschritten wird. Wenn viele, viele Kleine mit wenigen, sehr Großen „freie Verträge“ aushandeln müssen, dann sind uns die strukturellen Voraussetzungen für effektive Marktmechanismen abhandengekommen. Und wenn zu viel Gestaltungsmacht in privater Hand liegt, bedroht das die Demokratie und ihre Institutionen.

Wo sehen Sie das besonders?

Das können wir in den USA als dem Rollenmodell liberaler Demokratie nach 1989 eindrucksvoll beobachten. Deshalb gehören für mich soziale Gerechtigkeit, fairer Wettbewerb und der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen direkt zusammen. Dabei erinnere ich gern an den Ordoliberalismus: Umweltkatastrophen abwenden ist genuine Aufgabe des Staates.

Wie kriegt man aus Sicht der Transformationsforschung die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels noch hin?

ist Mitglied des Club of Rome. Weiterführende Lektüre bietet ihr Buch “The Great Mindshift“.

Wichtig ist, dass alle Sektoren gleichzeitig angegangen werden und dass Klimapolitik mit Ressourcenpolitik, Infrastrukturpolitik und Raumplanung zusammengedacht wird. Große Stellschrauben sind: CO2 ausreichend hoch zu bepreisen und die dreckigen Subventionen endlich abzubauen, um die Energiewende hin zu erneuerbaren Quellen und diversen Speicherformen für Energie so schnell wie möglich voranzutreiben.

Und?

Wärmewende ist das andere Stichwort und geht am besten mit einer Reform der Sanierungsstandards und des Baurechts einher, sodass nachhaltige Baustoffe, Holzbauweise so einiges an Sondermüll und Zement und Stahl ersetzen können. Und natürlich sollten das Planungsrecht, die Stadt- und die Verkehrswegeplanung verbessert werden, sodass die Mobilitätswende sich nicht auf alternative Antriebe beschränkt, sondern Alltagswege verkürzt werden und verschiedene Verkehrsmittel gut aufeinander abgestimmt modular nutzbar werden.

Was ist mit der EU-Ebene, die von Aktivisten bis Medien gern ignoriert wird?

Von der europäischen Ebene ist mit dem Green Deal nun endlich ein Ansatz formuliert worden, der dem entspricht, was wir „Whole Institution Approach“ nennen, also das Ziel der Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft wirklich als Querschnittsthema und auch Wettbewerbsstrategie zu verankern. In der Umsetzung wird jetzt interessant, ob der Anspruch auf politische Kohärenz gelingt. Da sind Metriken zur Erfassung der natürlichen Ressourcenbestände – also schneller Regeneration übernutzter Ökosysteme und möglichst umfassender Mehrfachnutzung entnommener Materialien – genauso wichtig wie differenzierte Indikatoren für soziale Ziele. Das gilt für die Politik wie für Unternehmen und Investoren. Und daran wird gearbeitet, auch wenn es noch einiges an Druck braucht, damit die Milliarden der Recoveryprogramme in diese Richtung wirken und nicht in die Stabilisierung alter Strukturen fließen. Die systematische Einbindung ökologischer und sozialer Ziele in Forschungs-, Struktur- und Investitionsprogramme ist zentral.

Was ist mit Landwirtschaft?

Der vermeintliche Paradigmenwechsel in der europäischen Agrarpolitik (GAP) war für alle Nachhaltigkeitsinteressierten ein echter Schlag. Vor allem nach den Ankündigungen bei der UN-Generalversammlung im September, dass nun ganz ernsthaft die Dekade der Regeneration der Ökosysteme eingeläutet werde. Weitere sieben Jahre diesen Pfad zu zementieren, ist katastrophal. Wir sollten alles tun, zumindest die neue Flexibilität in der nationalen Verwendung verantwortungsvoll zu nutzen. Allerdings befürchte ich die typische Blockadeargumentation der Besitzstandswahrer: Wir würden ja gerne, aber wenn nicht mindestens EU-weit verändert wird, können wir national nix tun. Und auf EU-Ebene wird alles getan, damit dort keine einheitlichen Vorgaben entstehen. Denn wir sehen natürlich die Bedeutung von Handelsabkommen oder Grenzmaßnahmen für den Ausgleich von preislichen Wettbewerbsnachteilen durch nachhaltigere Standards. Aber auch den Vorteil von nachhaltigen Produkten in übersättigten Märkten, wenn Nachhaltigkeitspolitik angekündigt wird. Durch die Diskussion von CO2-Anpassungsmechanismen an EU-Grenzen ist eine ganz neue Dynamik in die Klimaverhandlungen gekommen, außerdem gibt es neue Unterstützerallianzen.

Sie haben wesentliche Teile Ihres Nummer-1-Bestsellers „Unsere Welt neu denken“ auch schon in Ihrem Standardwerk „The Great Mindshift“ beschrieben. Warum ist es in diesem Jahr durch die Decke gegangen?

Das deutsche Buch ist auf viele, viele Nachfragen hin entstanden und kein wissenschaftliches, sondern bewusst ein Sachbuch für ein breites Publikum. Dennoch hat der Erfolg mich genauso überrascht wie ermutigt. In Krisenmomenten geraten viele Selbstverständlichkeiten ins Wanken und Zukunft wird plötzlich ein offenes, verhandeltes Momentum. Wenn wir es jetzt schaffen, die Krisenhaftigkeit und das Wanken für Reflexion zu nutzen, gesellschaftliche Ziele und das, was wir für normal halten, zu hinterfragen, und mit neuen Lösungen experimentieren, ist das doch genau das, was Aufklärung bedeutet und woraus sich die Erneuerungsfähigkeit einer Gesellschaft speist.

Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer deutlich intensivierten Klimapolitik kam durch Fridays for Future in die Mitte der Gesellschaft. FFF seien durch das Versagen der Grünen notwendig geworden, sagt die Klimapolitikaktivistin Luisa Neubauer. Nun hat sich die Bewegung auf die kleinste Oppositionspartei eingeschossen. Zu Recht?

Die gesamte Gesellschaft hat versagt, das würde ich nicht den Grünen in die Schuhe schieben. Insgesamt beobachte ich zwei prekäre Trends: Zum einen hört die Politik nicht auf, große Ankündigungen mit unzureichenden Änderungen zu verbinden. Das war beim Klimagesetz 2019 so und jetzt bei der Landwirtschaftspolitik der EU auch. Wir Wissenschaftler dürfen dann immer die Fahne heben und sagen: Tut uns leid, aber das, was ihr verkündet, ist leider nicht drin. Hier wird ein ungemeiner Vertrauensverlust riskiert. Wenn das Gesetz nicht ausreicht, um auf den für Deutschland verbindlichen Klimapfad zu kommen, dann sollte ich das auch nicht behaupten. Wenn die Reform nicht mal versucht, die negativen Trends in den Landnutzungsmustern tatsächlich zu drehen, dann sollte ich auch nicht einen erfolgreichen Paradigmenwechsel beteuern.

Die Wissenschaft sagt es doch klar: Die Politik muss es nur umsetzen – sagt FFF.

Wissenschaftliche Studien dürfen nicht mit einer Blaupause für Politik gleichgesetzt werden. Wir berechnen mögliche Pfade der Veränderung, aber das bedeutet nicht, dass diese in Demokratien problemlos 1:1 umgesetzt werden können, oder dass es nicht sogar für das gleiche Ergebnis unterschiedliche Pfade gibt. Darüber hinaus gibt es bei Studien Unsicherheiten, sobald es sich um komplexe lebendige Systeme handelt und nicht um Maschinen. „Unite behind the Science“ bedeutet daher nicht, dass es nur eine klare Wahrheit gibt. Der Wunsch nach Orientierung in einer Umbruchzeit darf nicht in dogmatische Fronten münden, dann wird die Suche nach dem nächsten gemeinsamen Schritt sehr schwer. Deshalb ist es wichtig, die eigenen Erkenntnisse und Interessen stark und offen zu vertreten, aber idealerweise ohne Aversion oder gar Hass gegen diejenigen, die andere haben. Das ist nicht leicht, insbesondere nicht, wenn die Machtverhältnisse sehr ungleich verteilt sind und die andere Seite alles nur aussitzen muss, um ihre Positionen weiter erhalten zu können und jahrelang TINA …

There Is No Alternative …

… beim Wirtschaften verkündet hat. Deshalb sehe ich die Hochqualifizierten in Führungspositionen in primärer Verantwortung dafür, den polarisierenden Trends eine angemessene Veränderungsbereitschaft entgegenzustellen.

Ist „Jung“ gegen „Alt“ die wahre Konfliktlinie?

Nein, auf keinen Fall. Ich habe sehr viele Zuschriften auf mein Buch von Leuten bekommen, die sagten, sie seien 70 oder auch 80, und unsere Art zu leben und zu wirtschaften, sei Irrsinn. Das ist die Legitimität der Nachkriegsgeneration, die noch weiß, wie man mit wenig klarkommt. So viele haben sich gemeldet und gesagt: Ich bin aus dem Berufsleben raus, ich möchte mich engagieren.

Neubauer und Sie haben auch Opa und Oma erreicht, die in der Kultur fossiler Meritokratie alt geworden sind, und zwar jenseits von politischen oder kulturellen Lagern.

Ja, genau. Die CDU kann Klimapolitik meinetwegen als Sicherheitsfrage oder Rohstoffstrategie verstehen, die SPD als Gerechtigkeitsproblem der Ressourcen und die Grünen können mehr auf die Ökologie gehen. Ich möchte, dass das für jeden anschlussfähig sein kann und muss, Hauptsache wir kommen jetzt in die Pötte.

Sie wuchsen in einem Dorf bei Bielefeld in einer ökologischen Hausgemeinschaft auf, gingen in die Reformschule. Ist das eine Biografie aus dem Ökomärchen, Frau Göpel?

Das ist so.

Keinen Schaden abbekommen?

Einige werden den sicher attestieren.

Sie lachen?

Ich habe es geliebt. Drei Familien in einem großen Bauernhaus mit drei Wohnungen und einem Riesengarten mit einem Bauwagen für die Kinder. Natürlich mit Regenbogen angemalt. Wir hatten Tiere. Vier der sechs Erwachsenen haben an unserer Reformschule gearbeitet.

Sie wurden 24/7 zur Weltretterin ausgebildet?

Nein, ich war auch in der lokalen Grundschule und dem Handballverein, aber wir waren schon eher die Hippies in einem konservativen Dorf.

Damals hat man Alternativwelten gebaut, eigene kleine heile Welten. War das so?

Irgendwie schon, aber nicht abgeschottet. In der Laborschule zum Beispiel wurden Kinder bewusst nicht nach Leistungsniveau getrennt und auch bewusst aus allen Verhältnissen gleichmäßig aufgenommen. Wir hatten nicht nur ein australisches Au-pair, sondern auch einen tamilischen Geflüchteten bei uns wohnen. Tschernobyl war eine intensive Erfahrung, und mein Vater hat auch damals schon Fleisch abgelehnt und Veggieburger gebraten. Aber ich hatte auch Phasen, wo mir Pubertät viel wichtiger war, Party, Alkohol, kiffen und Jungs.

Gott sei Dank.

Später kam dann meine Arbeit in den internationalen NGO-Netzwerken zum Welthandel. Dort habe ich erlebt, dass Armut und vor allem die empfundene Machtlosigkeit vor dem Zugriff auf die lokalen Lebensräume ein solches Ausmaß haben, dass Menschen ihr Leben opfern für den Protest gegen diese Form der Globalisierung. Deshalb habe ich auch so wenig Verständnis für das ignorante Verbotsgeschrei in reichen Ländern.

Inwiefern denken Sie anders und neu, wie das der Titel Ihres Buches sagt?

Mein Anliegen war und ist es, dass wir uns aus den vermeintlichen Gegensatzpaaren Staat versus Markt, Verbote versus Freiheit, Verzicht versus Konsum befreien, die auch den öffentlichen Diskurs und das neue Handeln so stark blockieren. Das habe ich in dem Buch kapitelweise dargestellt, um zu zeigen, dass diese Trennschärfe in der Realität gar nicht existiert. Und noch wichtiger, dass sich die normative Wertung von Maßnahmen nur dann sinnvoll diskutieren lässt, wenn wir historisch und kontextuell genau hingucken. Verbote können Freiheitsgewinn bedeuten – oder staatliche Interventionen überhaupt Märkte schaffen.

Ich bin sehr für sozialökologische Ordnungspolitik, habe aber bei Ihrem berühmten Satz „Verbote können uns befreien“ aus taz futurzwei auch schon Liberale kotzen sehen.

Jooo. Die, die sich heute besonders lautstark liberal nennen, sind häufig sehr privilegiert vom Status quo und finden diese Selbstverständlichkeit infrage gestellt, wenn es ein bisschen pluralistischer, ein bisschen weiblicher, ein bisschen verteilungsgerechter und ökologischer wird. Andere gewinnen aber Freiheiten, wenn sich die Karten neu mischen. Anders als beim Liberalismus für Chancengerechtigkeit findet sich hier eine vulgäre Version, in der primär die eigenen Privilegien verteidigt werden, aber keine Verantwortung für die Nebeneffekte übernommen wird.

Sicher würden Sie gern erzählen, dass die Leute durch die Coronapandemie nun volle Pulle Transformation befürworten. Aber der Wunsch, zum Alten zurückzukehren, ist sehr stark.

Die Politökonomin Maja Göpel hat mit „Unsere Welt neu denken“ einen Besteller geschrieben. Wir haben mit ihr über mögliche Zukünfte, das Befreiende von Verboten und eine Kindheit unter Hippies gesprochen – in der taz am wochenende vom 31. Oktober/1. November. Außerdem: Ein Blick auf die letzten Tage vor der US-Präsidentschaftswahl. Und: Das Wichtigste zum Corona-Teil-Lockdown. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Wir sind eben auch Gewohnheitstiere. Aber man sollte nicht den Wunsch nach Stabilität mit dem Wunsch nach der alten Version der Gesellschaft verwechseln. Es war ja schon vorher eine Hochrisikogesellschaft und der Populismus als Zeichen der Unzufriedenheit ein wachsendes Problem – die Pandemie hat das noch sichtbarer gemacht. Wir befinden uns in einer Umbruchphase und da, sagen Soziologen, brauche es eine glaubhafte Erzählung, wohin die Reise gehen kann, und Führungspersönlichkeiten, die diese Erzählung glaubhaft in die Welt tragen können, auch vertrauensstiftende Kooperationsprozesse und Übergangsrituale, und vor allem das Gefühl: „Wir“ wird wichtiger als „Ego“.

Ich halte es für Quatsch zu denken, wir hätten durch die pandemische Erfahrung die wahren und guten Dinge jenseits des Konsumismus entdeckt.

Das Wichtige an der Pandemieerfahrung ist, dass die Idee implodiert ist, dass es nicht anders geht, als wir es bisher machen. Nicht für alle, aber für diejenigen mit sicheren Jobs war neuer Zeitwohlstand eine positive Erfahrung, und es gibt viele Umfragen, in denen die dauernde Pendelei ins Büro und auch die volle Arbeitszeit lieber nicht wiedergewollt werden. Aber solange unsere Alltagsroutinen durch To-go-Verkaufsbuden führen und unsere Aufmerksamkeit mit Werbe- und Marketingbotschaften vermüllt wird oder auf Kurzlebigkeit getrimmte Trends und Halbwertzeiten wie Fast Fashion und Elektrogeräte nicht politisch angegangen werden, bleibt Konsumismus eben die vermeintliche „Normalität“.

Derzeit sind drei Zukunftspfade im Gespräch. Erstens: Weiter-so-fossil. Zweitens: Degrowth, also weniger für alle. Drittens: ökologische Modernisierung und „intelligentes“, also nachhaltiges Wachstum im Sinne von Ralf Fücks. Wo sind Sie?

„Das Wichtige an der Pandemie­erfahrung ist, dass die Idee implodiert ist, dass es nicht anders geht, als wir es bisher machen“

Zwischen zwei und drei. Degrowth heißt ja gar nicht weniger für alle, sondern weniger für die mit zu großem Fußabdruck, sodass andere auch genug haben. Dazu eine Befreiung vom strukturellen Zwang zu immer weiterem Wachstum. Ich vermeide den Begriff aber, da wir uns keinen Gefallen tun mit dem ewigen Streit über Wachstum oder nicht. Alle Ökonomen sind sich einig – zumindest außerhalb der Medien –, dass BIP-Wachstum nicht das Ziel von Politik sein sollte, sondern Wohlfahrt. Wenn wir nur noch Wachstum messen können, solange wir die Schadschöpfung von Produktionsprozessen aus der Bilanz ausblenden, dann ist ein steigendes Bruttoinlandsprodukt (BIP) keine Erfolgsgeschichte. Für mich ist die zentrale Frage deshalb folgende: Wie schaffen wir hohes Wohlergehen für alle innerhalb planetarer Grenzen und gewinnen dadurch idealerweise ökonomische Stabilität zurück? Dafür müssen wir Investitionen und Innovationen auch darauf ausrichten, Corona hat doch gezeigt, dass ökonomische Instrumente Mittel und nicht Ziele sind.

Warum?

Weil wir aus einem moralischen Imperativ heraus die Wirtschaft abgewürgt haben und kreativ geworden sind in den ökonomischen Instrumenten, um die schlimmsten Folgen für die Unternehmen und die Bevölkerung abzufedern. Leider noch nicht kreativ genug, denn im Rahmen der Transfers könnte natürlich viel sinnvolle Transformationsarbeit stattfinden. Nehmen wir ein Beispiel: Solange Messen nicht mehr stattfinden können, werden die Mitar­beiter damit beauftragt, nachhaltige Kon­zepte zu entwickeln, sodass diese Müllhaldeneffekte in Zukunft ausbleiben. Qualitative Entwicklung und das Wachstum des BIPs sind also nicht das Gleiche.

Das BIP muss weg?

Der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz hat das noch vor Corona auf den Punkt gebracht: Wir haben eine Demokratiekrise, Klimakrise und Ungleichheitskrise, und unser Leitindikator BIP vermittelt uns nicht den Hauch der Idee, dass wir ein Problem haben könnten.

Sie werden jetzt aber doch nicht ernsthaft für die Akademiker-Telenovela vom entschleunigten Leben argumentieren?

Sie meinen, ich sollte Keynes nicht zu ernst nehmen? Ich finde seinen Essay zu den Möglichkeiten unserer Enkel von 1930 ziemlich inspirierend. Bis 2030 sei die maschinelle Fertigung so weit, dass die materiellen Bedürfnisse mit geringer Arbeitszeit gedeckt werden und die Menschen sich endlich dem widmen könnten, was Lebensqualität und Zivilisation befördert: Bildung, Freunde, Familie, Gesundheit, Kunst und Kultur. Für diese Utopie hat er nicht einmal eine ökologische Krise gebraucht.

Tempo kann auch geil sein.

Temporär. Lebendige Systeme nehmen sonst Schaden. Ökosysteme können ihre Puffer auch eine Zeit lang strapazieren, aber irgendwann müssen sie die wieder aufladen können. Das Gleiche kennen wir doch von uns selbst auch. In verschiedenen Lebensphasen kann man auf unterschiedliches Tempo gehen, aber dauerhaft immer höhere Produktivität geht dann auf Kosten von Qualität und Resilienz.

Sind Sie dann letztlich eine Law-and-Order-Frau, die jenseits von Revolutionsflausen auf Ordnungspolitik setzt?

Recht und Ordnung verraten ja schon als Begriff, dass sie eine bestimmte moralische und normative Zielperspektive in sich tragen. Was das konkret bedeutet, ergibt sich immer aus dem historischen Kontext. Wenn sich also die Bedingungen unserer Existenz radikal verändert haben, dann kann das Bemühen um den Erhalt von Grundrechten und eines den Herausforderungen angemessenen Ordnungsrahmens zum Schutz von Freiheiten tatsächlich als revolutionär erscheinen. Das liegt aber weniger an meiner Gesinnung als an den radikal veränderten Rahmenbedingungen.

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