Am Ende ein sauberer Fluss

An Niederrhein und Waal in Holland hat sich eine Auenlandschaft mit ausgesetzten Wildtieren ihr Terrain zurückerobert. Nach 13 Jahren ist die Flusslandschaft weitgehend renaturiert, ein Informationszentrum klärt über das Biotop auf

„1.500 Hektar neue Natur gibt es bereits, mehr als 2.500 sollen es werden“

VON GUNDA SCHWANTJE

Sie sind sich selbst überlassen, sommers wie winters. Bei einem Besuch im Spätsommer jagen die wilden Pferde im Galopp über das Grasland, machen Halt am Ufer des Flusses. Der Leithengst mit seinen gut genährten Stuten und den Fohlen an der natürlichen Tränke. Eine Impression, die eine weite, unbesiedelte Landschaft nahe legen könnte. Auf dem Strom jedoch lärmen die Dieselmotoren der Rheinschiffe, stromauf bugsieren sie ihre Fracht ins Nachbarland. Überlandleitungen. Eine Eisenbahnbrücke. Am anderen Ufer des Flusses liegt eine Stadt. Arnhem. Niederlande.

Diesseits des Stroms ist Wildnis. Oder vielmehr das, was die Erde schaffen kann in 13 Jahren: eine Auenlandschaft mit Schilf, Silberweiden, Sümpfen, Tümpeln, Grasland. Und einem dichten Netz von Trampelpfaden – das Areal der Wildpferde. Aus diesem Gebiet vor dem Deich hat der Mensch sich weitestgehend zurückgezogen. Und schaut seither zu, was geschieht. Wo im Sommer Buschland und Sandstrände zum Verweilen einladen, wütet regelmäßig im Winter der Strom: Hochwasser. Der Niederrhein lässt den Wildpferden und den anderen Bewohnern der Wildnis dann nur eine schmale Insel übrig. Dort ist es eng, es fiept, tönt, flattert im Gebüsch, und dann ist Nahrung knapp in der Wildnis.

Meinerswijk, so heißt das kleine Reservat in Arnhem, ist seit 1992 ein Pilotprojekt der Stadt in Kooperation mit dem World Wildlife Fund (WWF) und der Organisation Stichting Ark. Das siebzig Hektar umfassende Kernstück des Parks hatte einst der Tongewinnung gedient. Es war stark verwüstet. Doch: „Zerstörte Flussnatur erholt sich erstaunlich schnell“, sagt Jan Floor, Ranger von Meinerswijk.

In wenigen Jahren ist hier wieder eine Landschaft ähnlich der ursprünglichen entstanden, kleine Mosaike aus Wald, Busch und Grasland. „Damit das Schwemmland nicht verbuscht, wurden Konikpferde ausgewildert“, erklärt Jan Floor, denn diese Rasse gleicht dem Tarpan, dem ausgestorbenen europäischen Wildpferd und wurde aus Polen in die Niederlande eingeführt.

„Die Tiere sind robust, zäh und unabhängig“, sagt Jan Floor. „Sie überstehen schadlos eisige Winter, Hungerperioden und sie sind gute Schwimmer.“ In der „neuen Natur“ sind sie die Mähmaschinen und erledigen diesen Job zusammen mit einer Herde schottischer Hochlandrinder.

Wie aufgezogene Perlen liegen heute solche Oasen „Neuer Natur“ entlang den Flüssen Rhein und Waal im Osten der Niederlande bei Nijmegen, Millingen und Huissen. Gelderse Poort heißt das Projekt, das vor zehn Jahren begann, weil es mit dem Flussmanagement so nicht weitergehen konnte.

Die Vorgeschichte: Hochwasser der Superlative hatten 1993 und 1995 einen Notstand ausgelöst an Rhein, Waal und Ijssel. 200.000 Menschen wurden 1995 evakuiert und Millionen Tiere. Die Maas (sie fließt weiter südlich) verließ 1993 ihr Bett und überschwemmte Regionen in den Provinzen Limburg und Gelderland. Einmal mehr hatte Wasser die Niederländer erinnert, dass sie in dem künstlich trocken gehaltenem Delta großer Ströme siedeln. Der Kraft der Flüsse sei mit höheren Deichen allein nicht beizukommen, lautete die Analyse. Diese Einsicht paarte sich mit einer Vision von „neuer Natur“ und „lebendigen“ Flüssen. Der Biologe Johan Bekhuis von Stichting Ark, der im Auftrag des WWF arbeitet, erzählt, Ideen und Pläne für Renaturierung habe es bereits in den Achtzigerjahren gegeben, denn „die Flüsse waren verschmutzt und unattraktiv. Die Menschen hatten sich davon zurückgezogen.“ Die Jahrtausendhochwasser hätten sich, heute gesehen, zu einem günstigen Zeitpunkt ereignet, behauptet Johan Bekhuis, denn sie beförderten Veränderungen. Die Deiche wurden erneut ausgebaut, gleichzeitig aber sollten Rhein und Waal wieder Land gewinnen mit ursprünglicher Flussnatur: wertvollem Stauraum bei Fluten.

Die Natur konnte ans Werk gehen. Was sie geschaffen hat, kann man bei einer Radtour durch die Gelderse Poort erkunden. Im größten Reservat am Waal, der 700 Hektar umfassenden Millingerwaard, gibt es meterhohe Flussdünen an wilden Ufern. Und Biberburgen. Und mit viel Glück deren putzige Baumeister zu sehen. Auch dort streifen Wildpferde und Rinder, in der Gelderse Poort je 200 Tiere.

Wer sich schlau machen will, wie Renaturierung zerstörter Flussbiotope genau funktioniert, steuert das Informationszentrum in Millingen an. In den zaunlosen Flecken neuer Natur kann der Mensch sich erholen. „100.000 Besucher kommen jährlich nach Millingerwaard, etwa eine Million in den Ooipolder bei Nijmegen“, berichtet Johan Bekhuis, und der Mann ist zufrieden. Weil die Menschen an den Waal zurückgekehrt sind. Auch habe die touristische Attraktivität der Gelderse Poort den Landwirten geholfen, sagt er, denn sie würden nun zunehmend auf sanften Tourismus setzen und sich so leichter von landwirtschaftlich intensivst genutzten Flächen am Fluss verabschieden. Die Suche nach Perspektiven werde außerdem durch das Höfesterben und Viehseuchen forciert.

Auch Meinerswijk hat immer mehr Anziehungskraft. „Anfangs kamen nur ein paar Naturfreaks nach Meinerswijk, mittlerweile sind es pro Jahr gut 20.000 Besucher“, berichtet Jan Floor, und er hat festgestellt, dass die Menschen oft nichts mehr wissen über die Natur. „In den Flussauen können sie neue Erfahrungen machen“, sagt er. Zum Beispiel erleben, dass die Erde uns nicht braucht.

Auen haben nichts Liebliches, sie haben nichts mit einem angelegten Park gemein. Auen sind dynamisch, immer in Bewegung, immer im Wandel. Und der Mensch greift insofern ein in Meinerswijk, als nach Winterhochwassern „ein Putztrupp loszieht und Badewannen, Autoreifen, Glas und sonstigen Unrat einsammelt“, erzählt Jan Floor. Im Herbst 2004 wurde gerodet, um einen Nebenarm des Niederrheins offen zu halten. „Außerdem nehmen wir tote Pferde und Rinder aus dem Park“, sagt der Ranger. Kadaver seien den Besuchern nicht zuzumuten.

Nach und nach kommen mehr Perlen auf die Kette. „1.500 Hektar neue Natur gibt es bereits, mehr als 2.500 sollen es werden“, sagt Johan Bekhuis, und dass zusätzlich etwa 20.000 Hektar unter Naturschutz stehen in den Niederlanden, Dörfer mit eingerechnet. Angedockt sind gut 10.000 Hektar Naturschutzgebiete und landwirtschaftliche Nutzflächen bei Emmerich und Kleve in Nordrhein-Westfalen, denn das Projekt findet in Kooperation mit den deutschen Nachbarn statt. Schließlich fließt der 1.320 km lange Rhein zu neunzig Prozent durch Deutschland. Der Strom ist hier in ein enges Korsett gezwängt. Rund achtzig Prozent des Schwemmlandes gingen bei seiner Umrüstung zur Wasserstraße verloren.

In Meinerswijk gibt es in diesem Sommer in der Pferdeherde wieder Nachwuchs mit fünf Fohlen. Ein junger Hengst spielt mit seinen Kräften, fordert den Leithengst heraus und hat keine Chance. Ein Trampelpfad führt durch mannshohes Dickicht an einen der Seen, dort stehen Reiher regungslos am Schilfgürtel. Eine Impression, die Stille nahe legt. Von der nahen Autobahn jedoch weht der Lärm der Zivilisation herüber.