Neuer Gedichtband von Marcel Beyer: Kinderherz der Finsternis

Im Gedichtband „Dämonenräumdienst“ geht Marcel Beyer auf Geisterjagd. Dabei erkundet das lyrische Ich die eigene Vergangenheit und begegnet Untoten.

Porträt eines Mannes, der den Betrachter anschaut, das Kinn auf die Hand gestüzt

Marcel Beyer sucht die Abgründe: die seelischen und die sprachlichen ​ Foto: Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif

Marcel Beyer hat seine Literatur mal als „unablässiges Wechselspiel“ bezeichnet, in dem der Autor den Abstand zwischen sich und der Welt immer neu vermisst. Beyers literarische Arbeiten, sowohl Lyrik als auch Prosa, sind daher auch keine auf Hochglanz polierten Textblöcke, sondern eher fragile Gebilde, die Löcher aufweisen, Untiefen beschreiben, Räume öffnen.

Mehrstimmigkeit ist hier das zentrale Stilmittel, ein „Gegengift“, wie es in seinem letzten Gedichtband „Graphit“ hieß, „gegen den ganzen monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber“.

So heikel es ist, Literatur auf biografische Erfahrungen zurückzuführen, für das Werk Beyers können sie aber auch ein Lektüreschlüssel sein. So spielen die Wohn- und Schaffensräume Beyers eine wichtige Rolle: Oft ist er umgezogen, hat im Ausland gelebt und gelehrt, und vielleicht haben die vielen Eindrücke an den unterschiedlichsten Orten auch dazu beigetragen, dass die literarische Offenheit zu seinem literarischen Programm wurde.

Marcel Beyer: „Dämonenräumdienst“. Suhrkamp, Berlin 2020, 173 Seiten, 23 Euro

Geboren wurde Marcel Beyer 1965 in Tailfingen, einer 700-Seelen-Gemeinde im Zollernalbkreis in Baden-Württemberg; aufgewachsen aber ist er in Kiel und Neuss. Er studierte in Siegen, wohnte unter anderem in London, in Berlin und seit 1996 im Dresdner Stadtteil Strehlen. Neben den Bezügen zu diesen Orten ist auch die geistige Landschaft, in der sich Beyer verortet, wichtig für das Verständnis seiner Texte, die von den Arbeiten Friederike Mayröckers und vom französischen Nouveau Roman geprägt sind.

„Reh im Innendienst“

Collage, Zitat, Vielstimmigkeit sind wesentliche Merkmale, die beim Büchner-Preisträger des Jahres 2016 immer auch einen Echoraum für deutsche Geschichte, aber auch für die Popkultur bilden. Der Witz bei all dieser Ambition ist: Marcel Beyer gelingen trotzdem federleichte Formulierungen, so auch im neuen Gedichtband mit dem schönen Titel „Dämonenräumdienst“, der sich nicht nur mit merkwürdigen Untoten aus der Unterhaltungsindustrie, sondern auch mit schlimmen Ungeheuern der Kindheit beschäftigt.

Schon in den ersten Gedichten des Bandes geht es in das Kinderherz der Finsternis. Bambi tritt auf, und der Dichter fühlt sich „als Reh im Innendienst“. Das lyrische Ich erkundet die eigene Vergangenheit und damit auch die Welt des Vaters, über den es heißt: „In meines Vaters Haus sind viele / Wohnungen. Ich möchte keine / einzige von innen sehn. Parterre / Steht man knöcheltief in Marzipan.“

Es ist eine zähe und klebrige Masse der Erinnerung, durch die hier gewatet wird. Vom Knabenchor geht es zum Dentallabor, und daheim, im „ersten Stock / greift einem etwas in den Schritt“. Marcel Beyer macht nicht den Fehler, die Zumutungen, Ungeheuerlichkeiten und Übergriffe in der Kindheit auszubuchstabieren. Mit wenigen Zeilen ist alles gesagt. „Geister sind das, hier in deiner / Bude, deren letzte Winkel /die Tchibo-Taschenlampe nicht / erfaßt.“

Das dunkle Kinderzimmer wird „Blutbude“ genannt, etwas Freiheit und begrenztes Glück gibt es nur außerhalb. Das Gefühl aber, dass an jeder Ecke seltsame Figuren lauern, wird diese Dichterstimme, die an so vielen Orten unterwegs ist, ein Leben lang nicht mehr los.

In diesen Versen ist das Leben dem Tode nah

Der merkwürdige und schon zu Lebzeiten ziemlich untote Modeschöpfer Moshammer („Ein Wort wie Baggerblut.“) trägt bei Beyer immer noch sein Hündchen Daisy durch München, in „Köln, einer Stadt der Knochen / und Kutten, mit Kopfsteinpflaster / zum Schädel­knacken“ riecht und mieft es auf mal betörende und dann wieder ekelhafte Weise. In diesen Versen scheint das ganze Leben, wo auch immer es stattfindet, dem Tod nah zu sein: „Die Tage gibt es, an denen man / als Zombie durch die Szene / wanken muß, über den Wertstoffhof / am Rand der Stadt, bei zwei / Grad Außentemperatur, mit Dunst / im Blick und kaltem Staub.“

Genau vierzig Zeilen ist jedes Gedicht lang, in übersichtlichen Vierer­päckchen zusammengeschnürt. Der strenge Rahmen der fünf Zyklen im „Dämonenräumdienst“ erinnert auf formaler Ebene an das Haus des Vaters, dem es zu entkommen gilt. Nicht nur das ständige Umherziehen, sondern auch das Schreiben, das „unterkühlt und lichterloh“ sein möchte, wird zur Fluchtbewegung, die doch immer wieder von der Kindheit eingeholt wird: „[…] ich schreibe diese Gedichte / wie ein Kind, das heimlich / tut und einfach froh ist, wenn / niemand mit ihm schimpft.“

Was Beyers sprachliche Such- und Fluchtbewegungen auszeichnet, ist die schonungslose Offenlegung der lyrischen Perspektive, die keineswegs naiv ist, in den besten Momenten aber eine kreativ-kindliche Lust am Sprachspiel zeigt. Die Dämonen haben diesem Dichter den Schalk jedenfalls nicht austreiben können: „Irgendwer sollte endlich einmal / HAAR auf GEFAHR reimen, / oder GEFAHR auf ein keimiges / Rattansofa, und sei es / auch nur um den Klang in den / Abgrund gleiten zu lassen.“

Poesie-Pirouetten in die Düsternis

Marcel Beyer sucht die Abgründe, die seelischen und sprachlichen. Zuweilen ist es mühsam, dem Dichter auf allen Poesie-Pirouetten in die Düsternis zu folgen. Einige Wortneuschöpfungen, manche Metaphern wirken auf eher routinierte Weise verspielt. Insgesamt geht er ein hohes literarisches Risiko ein, wenn er beispielsweise mit „Ginster“ Paul Celans Todesfuge reformuliert. Der Tod ist hier kein „Meister aus Deutschland“, sondern ein „Arschloch aus Strehlen“, der „mit seiner schwarzen Zunge / die Blüten des Ginsters berührt“.

Die Pflanze ist bekanntlich giftig. Wenn Beyer sie nun in den Vorgärten des Dresdner Vorortes Strehlen üppig wachsen lässt und die Bildwelt der Todesfuge paraphrasiert, dann ist das auch als politischer Fingerzeig zu lesen, hat der Autor in zahlreichen Interviews doch oft auf den wachsenden Alltagsrassismus in seiner Wahlheimat hingewiesen.

Im Titelgedicht, das in der Mitte des Bandes platziert ist, lässt Marcel Beyer endlich den „Dämonenräumdienst“ kommen, der auch nötig ist, um die vielen Untoten zu stellen, die in diesen Versen herumspuken. In gewisser Weise ist Marcel Beyer so etwas wie ein Geisterjäger der deutschsprachigen Lyrik, der weiß, dass die Ghostbusters der Poesie letzten Endes nicht erfolgreich sein können. Denn kaum ist ein Zombie erkannt, vielleicht sogar niedergestreckt, irren sensible Helden schon wieder „in einem anderen Wald“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.