Kranke und Alte in der Coronakrise: Und was machen die Risikogruppen?

Im Frühjahr sprachen wir viel über die Risikogruppen, die wir schützen müssen. Und heute? Jetzt sind sie sich selbst überlassen.

In einem Schaufenster stehen drei Puppenköpfe mit Mund-Nase-Bedeckung

Solidarisch Maske tragen, aber ist es damit getan? Foto: Paul Zinken/dpa

Meine Mitbewohnerin wurde letzte Woche zu einer Party eingeladen. Mit 100 Gästen. Die täglichen Neuinfektionen lagen da schon bei mehr als 6.000. Gesundheitsminister Jens Spahn sagte kürzlich, die Pandemie sei ein „Charaktertest für uns als Gesellschaft“. Wenn dem so ist, fürchte ich, sind wir kurz davor, durchzufallen. Im Frühjahr standen viele Menschen jeden Abend an den Fenstern und klatschten. Klatschten für Ärzt*innen und Pflegekräfte, die das Gesundheitssystem am Laufen hielten, während sie sich der Gefahr einer Infektion aussetzten. Jetzt sind die täglichen Neuinfektionen höher als damals. Wo sind die klatschenden Menschen jetzt?

Im Frühjahr sprachen wir viel von „Risikogruppen“, die wir schützen müssen, Kranken und Alten, die darauf angewiesen waren, dass wir auch für sie die Regeln einhalten. Jetzt sind die täglichen Neuinfektionszahlen höher als damals. Was machen die Risikogruppen jetzt? Ein Arzt, der in der Notaufnahme eines Berliner Krankenhauses arbeitet, erzählte mir vor ein paar Tagen, dass sie es nicht mehr schaffen, in der Notaufnahme die Abstandsregeln einzuhalten, weil seit zwei Wochen immer mehr Covid-Kranke kommen. Ihre einzige Lösung: schneller arbeiten. Um Patient*innen und sich selbst zu schützen.

Eine Mutter, die mit ihrer atemwegskranken Tochter im Berliner Umland im Krankenhaus ist, erzählte mir von der Unsicherheit in diesen Tagen, bei Patient*innen und Belegschaft. Sie weiß nicht, wie es nach dem Klinik­aufenthalt weitergehen soll, weil die Tochter als „Risikopatientin“ nicht in die Schule kann. Die „Risikogruppen“ müssen gerade selbst sehen, wo sie bleiben.

Dass wir in der zweiten Welle angekommen sind, liegt an uns allen. An all jenen, die, verständlicherweise, genug haben von der Pandemie und den Einschränkungen. Frust und Langeweile haben sie vergessen lassen, dass der Wert menschlichen Lebens nicht davon abhängt, ob ein Mensch jung ist oder alt, gesund oder krank. Vergessen lassen, dass auch „Risikogruppen“ am Leben teilnehmen möchten.

Wir sollten nicht nur mit Expert*innen sprechen

Es liegt an denen, die Expert*innen glauben, die zwar sehr, sehr gut auf ihren fachlichen Gebieten, aber scheinbar nicht auf dem Gebiet Mitgefühl sind und in Interviews sagen, es sei alles nicht so schlimm, weil noch Intensivbetten frei seien, Deutschland könne auch mit Zehntausenden Neuinfektionen klarkommen. Solche Aussagen helfen beim Vergessen jener Menschen, die einer dieser Todesfälle trifft, um die es aber nicht gehen soll. Wir sollten nicht nur mit Expert*innen sprechen. Wir sollten auch mit Gastronom*innen sprechen, mit Pflegekräften, chronisch Kranken, mit Eltern, die nicht wissen, was sie bei geschlossenen Kitas machen sollen. Nicht, damit wir Angst kriegen. Angst hat noch nie Probleme gelöst. Aber vielleicht hilft es dabei, uns daran zu erinnern, was Mitgefühl ist.

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Ausgebildet als Ärztin und Politikwissenschaftlerin, dann den Weg in den Journalismus gefunden. Beschäftigt sich mit Rassismus, Antisemitismus, Medizin und Wissenschaft, Naher Osten.

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