Wohnen für Anfänger

„Housing First“ postuliert ein Menschenrecht auf Wohnen. Wie das in Deutschland klappen kann, ergründen bald mehrere Modellprojekte im Norden

„Für Menschen in extrem desolaten psychischen Zuständen gibt es vielleicht bessere Lösungen. Aber für die erdrückende Mehrzahl der Menschen ist das beste eben die eigene Wohnung“

Stephan Nagel, Diakonie Hamburg

Von Lotta Drügemöller

Ein wenig klingt es wie ein Wundermittel der Wohnungslosenpolitik, dieses „Housing First“: Einfacher soll es sein als andere Konzepte, erfolgreicher, und nach einigen Erhebungen sogar günstiger. Und dann auch noch, vor allen Dingen: menschenfreundlicher.

Das Prinzip, das in den 90er-Jahren in den USA entwickelt wurde, ist einfach: Es gibt ein Menschenrecht auf Wohnen, deshalb sollen Obdachlose als allererstes eine Wohnung bekommen, mit unbefristetem Mietvertrag, bedingungslos. Erst wenn die Menschen diese sichere Grundlage haben, werden weitere Probleme angegangen. Und: Die Annahme von Unterstützung ist bei Housing First stets freiwillig.

Gegen das Konzept gibt es durchaus Vorbehalte: Müssen Obdachlose nicht zunächst stabilisiert werden, bevor man sie mit ihren Problemen in eine Wohnung steckt? Laut Jutta Henke, wissenschaftliche Leiterin bei der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung in Bremen, ist bei dem gut erforschten Housing-First-Konzepten im Ausland bisher eher aufgefallen, dass die eigene Wohnung ein großer stabilisierender Faktor ist – sofern es daneben ein Betreuungsangebot gibt. Die meisten Teilnehmer*innen leben auch zwei Jahre nach dem Erstbezug in der eigenen Wohnung.

Stephan Nagel, Geschäftsführer der Evangelischen Notfallhilfen der Diakonie in Hamburg und ein „leidenschaftlicher Befürworter“ von Housing First, wehrt sich dagegen, dass Obdachlose ihre Wohnfähigkeit erst in Notaufnahmen beweisen sollen: „Schwierigkeiten beim Wohnen lassen sich nicht so gut in einem künstlichen pädagogischen Setting einüben“, sagt er. „Fahrradfahren kann man nur auf einem Fahrrad lernen, Wohnen nur in einer Wohnung.“

Welche Auswirkungen Housing First im deutschen Sozialsystem tatsächlich haben könnte, dürfte in den nächsten Jahren klarer werden. In Düsseldorf gibt es bereits seit einigen Jahren ein Pilotprojekt. Nun zieht Norddeutschland nach: Sowohl in Hannover als auch in Bremen entstehen gerade Modellprojekte. Und auch in Hamburg ist ein Housing-First-Modellprojekt zumindest Teil des Koalitionsvertrages.

In Hannover geht’s bald los

Die Mauern des neuen Hauses stehen schon in Hannover-Vahrenwald, im März sollen die ersten Bewohner*innen einziehen. 15 kleine Ein- bis 1,5-Zimmer-­Wohnungen entstehen hier für das Pilotprojekt „Wohnen und dann“. Housing First wurde in der niedersächsischen Landeshauptstadt von der Stiftung „Ein Zuhause“ in die Diskussion gebracht – und sie ist es auch, die im Februar 2019 von der Stadt den Auftrag zum Bau und Betrieb der ersten Projektwohnungen bekommen hat. Zwei Millionen Euro für den Bau und 200.000 Euro im Jahr für den laufenden Betrieb sollen von Stadt und Stiftung in das Projekt fließen; der Stiftungsvorsitzende Eckart Güldenberg hofft, damit sogar günstiger zu sein als Projekte ohne Housing-First-Anspruch.

Nach „Bedingungslosigkeit“ klang das Projekt bei der Konzeption 2019 zunächst nicht – schließlich sollten noch Kriterien dafür entwickelt werden, wer einziehen dürfe. Die jedoch stehen nun fest und fügen sich gut ein in die Housing-First-Grundsätze: Die Teilnehmer*innen müssen aktuell auf der Straße oder in Notunterkünften leben und sie brauchen einen Wohnberechtigungsschein; außerdem wird die Gender-Dimension mitgedacht: Weil ein Drittel der Hannoverschen Obdachlosen weiblich ist, soll auch mindestens ein Drittel der Wohnungen an Frauen gehen.

Das sei Housing First, so wie es sein soll, sagt der Stiftungsvorsitzende ­Eckart Güldenberg. Die Bewohner*innen werden Untermieter*innen der Sozialen Wohnraumhilfe, „mit allen Rechten und allen Risiken“, betont er. Die Mietverträge sind unbefristet und bleiben damit auch nach Ende des dreijährigen Projektes gültig.

Durch die Entscheidung, die benötigten Wohnungen extra zu bauen, ist eine weitere Ausrichtung schon mitbeschlossen: „Wohnen und dann“ wählt eine zentrale Lösung, die 15 Teilnehmenden leben in einem Haus mit anderen Menschen aus dem Projekt.

Güldenberg sieht das eher als Vorteil – nicht nur, weil die direkten Nachbar*innen ähnliche Erfahrungen gemacht haben könnten, sondern auch, weil die Beratungsstelle mit Sozialarbeiter*innen direkt am Haus angedockt werden könne. Wer Unterstützung brauche, solle sie sich dort holen, so der Gedanke in Hannover. Aufgedrängt oder auch nur offensiv angeboten werde sie nicht.

Bremen mit ehrgeizigem Zeitplan

Etwas anders geht Bremen vor: Jedes Jahr, so der Beschluss, sichert sich die Stadt gegen Mietgarantien Belegrechte für 35 Wohnungen bei privaten Vermieter*innen und den großen Wohnungsgesellschaften – verteilt auf die ganze Stadt. 2,3 Millionen Euro soll der Ankauf von Belegrechten kosten; dazu kommen jährlich 400.000 Euro für die sozialpädagogische Betreuung.

Die dezentrale Lösung soll nicht nur der Durchmischung der Stadtgesellschaft dienen; durch den Ankauf fertiger Wohnungen will Bremen auch besonders schnell sein. Erst im September hat die Bürgerschaft das Programm beschlossen, schon im Frühjahr 2021 sollen die ersten Mieter*innen einziehen.

Bei deren Auswahl allerdings bewegt sich Bremen ein Stück weit weg von der reinen Lehre: Die Stadt stellt Ansprüche bei der Auswahl ihrer Mieter – etwa den, dass diese das Unterstützungsangebot annehmen; Menschen mit möglicher Selbst- oder Fremdgefährdung oder mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen wie Demenz sind ausgeschlossen.

Die Kritik an diesen Einschränkungen hält sich bisher in Grenzen. „Für Menschen in extrem desolaten psychischen Zuständen gibt es vielleicht bessere Lösungen“, sagt Nagel von der Hamburger Diakonie. „Aber für die erdrückende Mehrzahl der Menschen ist das beste eben die eigene Wohnung.“

Den Wohnungsmangel lösen werden die Modellprojekte allerdings nicht: Wenigen Dutzend Plätzen stehen Hunderte Obdachlose und Tausende Wohnungslose gegenüber. „Da ist noch viel mehr politischer Wille gefordert“, sagt Nagel. Sein Vorschlag: Bei Bestandswohnungen müsste es eine feste Quote für benachteiligte Mieter*innen geben. Denn: „Obdachlose sind nur die sichtbare Spitze des Eisbergs der Wohnungsnot.“