Debatte um „Polen-Denkmal“ in Berlin: Namenlose Verbrechen

Im Vernichtungskrieg der Nazis wurde die slawische Bevölkerung des Ostens terrorisiert. Mit dem Erinnern daran hapert es.

Illustration eines Denkmals.

So könnte das Denkmal aussehen Foto: Katja Gendikova

Der erste Einsatz, den der Soldat Albert Rodenbusch im Osten erlebte, fand am 29. Dezember 1942 in Weißrussland statt. Er und seine Kameraden des Ausbildungsregiments 635 wurden in einem Dorf von der örtlichen Bevölkerung freundlich empfangen. Trotzdem, so Rodenbuschs Aussage beim Kriegsverbrecherprozess in Minsk 1946, brannten deutsche Soldaten den Ort nieder und nahmen die Bewohner gefangen.

Im nächsten Dorf wurde die Wehrmacht mit Gewehren beschossen. Angehörige des Ausbildungsregiments fackelten das Dorf ab und exekutierten die 70 Bewohner; Männer, Frauen, Kinder. Im dritten und vierten Dorf trafen sie auf keinen Widerstand, brannten die Dörfer ab, töteten die meisten Bewohner und nahmen die Überlebenden gefangen.

Wehrmacht, SS, Waffen-SS und Polizeibataillone machten in Weißrussland mehr als 600 Dörfer dem Erdboden gleich. Das war kein Ergebnis einer aus dem Ruder gelaufenen Gewaltdynamik, von Exzessen, wie sie in entfesselten Kriegen immer wieder vorkommen, sondern von einer von oben angeordneten Praxis.

Im NS-Rassenkrieg wurde die slawische Bevölkerung des Ostens terrorisiert, wurden entvölkerte „tote Zonen“ geschaffen, Städte ausradiert, Kultur und Eliten vernichtet. Die Grenzen zwischen der gezielten Ermordung der jüdischen Bevölkerung, der Partisanenbekämpfung, die meist nur als Vorwand diente, und dem Terror gegen die Zivilbevölkerung verschwammen.

Gewaltexzesse in Weißrussland

In Weißrussland fiel die NS-Gewaltpraxis besonders brutal aus, ein Fünftel der Bevölkerung fiel dem Terror zum Opfer. Erst Ende der 1980er Jahre, als die Sowjetunion vor dem Zusammenbruch stand, hatte Weißrussland wieder so viele Einwohner wie vor dem deutschen Überfall 1941.

Die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung im Osten sind fast namenlos geblieben. Es gibt kaum Bilder und Begriffe für den Vernichtungskrieg zwischen Brest und Kursk, Tallinn und Odessa. In Schulbüchern finden sich keine markanten Orte oder Namen von Partisanen – der Rassenkrieg der Nazis ist 75 Jahre nach Kriegsende in Deutschland weitgehend Terra incognita.

Wir kennen keine Figur aus Minsk, mit der wir uns identifizieren können wie mit Anne Frank. Wir kennen keine glänzenden Texte von Intellektuellen wie Ruth Klüger, keine Biografie wie die von Charles de Gaulle, dem Kopf der französischen Résistance. Kein Claude Lanzmann hat den Schrecken in den Gesichtern der Überlebenden sichtbar gemacht, kein Steven Spielberg das Grauen in die Sprache von Hollywood übersetzt. Die mehr als drei Millionen sowjetischen Soldaten, die die Wehrmacht verhungern und erfrieren ließ, sind namen- und gesichtslos geblieben. Das Mahnmal Chatyn bei Minsk ist in Deutschland kein Begriff.

Eine weiße Fläche

Die Verbrechen an der nichtjüdischen Zivilbevölkerung in den deutsch besetzen Gebieten ist in der kollektiven Erinnerung der Bundesrepublik eine unbeschriebene, weiße Fläche. Nur am Rand und vereinzelt sind sie, wie die Hungerblockade Leningrads, Teil offizieller Gedenkrituale geworden. Das bundesdeutsche Selbstbild, es in Sachen Vergangenheitsbearbeitung weit gebracht zu haben, ist gegen diesen Mangel an Wissen und Interesse erstaunlich immun.

Wer Berlins Mitte zu Fuß durchstreift, kann von dem wuchtigen Holocaust-Mahnmal samt umfänglichem Dokumentationszentrum zur „Topographie des Terrors“ gehen, dem früheren Gestapo-Hauptquartier. Von dort ist es nicht weit zum Bebelplatz und Micha Ullmanns subtilem Denkmal, das an die Bücherverbrennung erinnert. Vom Libeskindbau und Jüdischem Museum fährt man ein paar Busstationen zum Bendlerblock, wo Stauffenberg erschossen wurde und die verzweifelte Geschichte des deutschen Widerstands gegen das NS-System vergegenwärtigt wird.

Fast könnte man den Eindruck haben, dass, wie Konservative vor 20 Jahren warnten, Berlins Mitte sich in einen ästhetischen, professionell gemachten Gedenkpark verwandelt hat. In ein paar Jahren wird man am Anhalter Bahnhof das Exilmuseum besuchen können, ein privat finanziertes großformatiges Projekt, das uns das Schicksal von Bert Brecht, Walter Benjamin, Hannah Arendt und anderen vor Augen führen wird. Intellektuelle, Literaten, Künstler, mit dem richtigen moralischen Kompass ausgestattet, die verfolgt und verjagt wurden. Sie sind so, wie wir gerne wären.

Aber etwas fehlt!

Wir machen Unterschiede, auch bei den Opfern. Es gibt solche, die für unser Selbstbild interessant sind, die uns nah erscheinen, die Interesse und Mitleid wecken, während namenlose sowjetische Soldaten, deren Rache und militärische Potenz unsere Eltern und Großeltern fürchteten, uns fernbleiben.

Angesichts dieser eingefrästen Ignoranz hat der Bundestag kürzlich einen ungewöhnlichen Entschluss gefasst. In Berlin soll ein Dokumentationszentrum entstehen, das die Geschichte der deutschen Besatzung in Europa erzählt. Dieses Zentrum soll helfen, die klaffende Lücke in der hiesigen Erinnerungslandschaft zu schließen.

Die von dem Historiker Wolfgang Benz angeregte Erweiterung auf ganz Europa ist klug – die rassistische Vernichtungspraxis tritt im Kontrast zu der Besatzung im Westen umso deutlicher hervor. Dieses Zentrum wird das größte, ambitionierteste geschichtspolitische Projekt seit dem Holocaust-Mahnmal. Nicht zuletzt das Verdienst von Historikern wie Peter Jahn, der seit Jahrzehnten für mehr Aufmerk­samkeit für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik wirbt.

SPD, Grüne, FDP, Linkspartei und Union haben diesen „Meilenstein“, so die SPD-Abgeordnete Marianne Schieder, in seltener Einhelligkeit beschlossen. Noch erstaunlicher war, was danach geschah: nichts. Kein Für und Wider im Feuilleton, noch nicht mal pflichtschuldige Berichte auf den hinteren Zeitungsseiten. Eine Agenturmeldung, sonst nur Schweigen. Bei der Zwangsarbeiterentschädigung, bei den Denkmälern für Homosexuelle oder die Opfer der Euthanasie erschienen stets unzählige Zeitungstexte. Es gab harte, rechthaberische, moralisch aufgeheizte Debatten.

Ein abgeschlossener Prozess

Das jetzige Desinteresse der Öffentlichkeit ist ein Indiz, dass die Historisierung des Nationalsozialismus ein abgeschlossener Prozess zu sein scheint. Jenseits der mitunter hysterisch geführten Debatte um Israel lassen sich mit NS-Geschichte keine diskursiven Distinktionsgewinne mehr erwirtschaften oder identitätspolitische Gewinne verbuchen. Ob der Vernichtungskrieg im Osten erinnert oder vergessen wird, berührt das Selbstbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft offenbar nicht. Die NS-Zeit ist zwar noch keine sedimentierte Schicht wie der Erste Weltkrieg oder das Kaiserreich. Aber sie gilt 2020 als zu Ende erzählt.

Auch die Rollen von Zivilgesellschaft und offizieller Politik haben sich verkehrt. Früher waren es kleine, gut organisierte Gruppen, meist im Verbund mit Historikern und wenigen aufgeschlossenen PolitikerInnen, die die Öffentlichkeit mobilisierten und geschichtspolitische Projekte gegen den zähen Widerstand in den Institutionen durchsetzten. Jetzt ist das Bild anders: Der Bundestag vornweg, die Öffentlichkeit desinteressiert.

Der neue deutsche Gedenkdiskurs kreist zudem nicht mehr um das Bild deutscher Täterschaft, sondern um die Wirkung nach außen. Das ist der Kern der Debatte, ob neben dem Okkupationszentrum ein eigenes Denkmal für Polen nötig ist. Diese Frage ist seit Jahren im geschichtspolitischen inner circle hart umkämpft, allerdings ohne größeres öffentliches Interesse zu wecken.

Die Pro-Fraktion, die bei Union und Grünen viele Sympathisanten hat, will Polen als erstes und besonderes Opfer des NS-Systems würdigen. Man könne Polen, 1939 überfallen, nicht zumuten, als Opfer an Putins Seite eingemeindet zu werden. Die Skeptiker bei der SPD fürchten, dass ein gesondertes Denkmal für Polen eine Opferkonkurrenz anfacht, die man brauchen kann wie Kopfschmerzen.

Hierarchisierung der Opfer

Manche Argumente klingen doppelbödig. Dieter Bingen, lange Chef des Poleninstituts, begründet die Notwendigkeit des Denkmals damit, dass „Polen eine Kulturnation ist, nicht Teil eines slawischen Kollektivs“. Da hallt eine Abschätzigkeit nach, die Deutsche auch 75 Jahre danach nicht anklingen lassen sollten und die angesichts der na­tio­nalistisch verengten Geschichtsnarrative in Moskau, Warschau und Kiew leichtfertig wirkt.

Der ukrainische Botschafter erkennt in dem Polen-Denkmal „einen gefährlichen Präzedenzfall der Hierarchisierung der NS-Opfer“ und fordert umgehend ein Denkmal für die Ukraine. Der polnische Botschafter antwortete mit Polemik: Bei der ethnischen ukrainischen Bevölkerung habe es unter deutscher Besatzung – anders als in Polen – „nicht mehr als einige Hunderttausend“ Opfer gegeben – und weist ausgiebig auf Kollaboration von Ukrainern mit den Nazis hin.

Der Streit der Botschafter zeigt, dass Opferkonkurrenz keine Chimäre oder vage Befürchtung ist. Dieser Zoff ist nur ein Vorschein dessen, was kommen kann, wenn sich der Geschichtskonflikt zwischen dem nach Westen strebenden Ostmitteleuropa und Russland entfacht. Das Dokumentationszentrum hingegen ist ein angemessener Versuch, nötige Debatten auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Die Befürworter des Polen-Denkmals wollen Warschau so nah an Berlin rücken wie Paris. Sie wollen Polen, von vielen Deutschen noch immer achselzuckend ignoriert, sichtbarer machen. Das ist ein erfreuliches Ziel, aber geschichtspolitische Symbolik anhand des NS-Kriegs im Osten ist die falsche Methode. Der Bundestag wird das Polen-Denkmal in der nächsten Woche beschließen.

Das ist gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Berlin darf sich nicht zum Schiedsrichter bei ­nationalistisch erhitzten Diskursen machen, die auch ein Echo des Autoritarismus jenseits der Oder sind. Wer Opfer in kulturell hochstehende, daher mit Denkmälern zu adelnde, und minder wertvolle teilt, zeigt, dass die Lektionen der NS-Zeit trotz aller Aufarbeitung nicht vollständig ­begriffen sind.

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Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

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