Von wegen Trash?!

Während der Coronapandemie gleicht der eigene Alltag beizeiten einer Zombie-Apokalypse. Viele flüchten sich daher in andere Realitäten, nämlich in die des Reality-TVs. Doch ist es wirklich nur Eskapismus, was die Menschen zu Trash-TV verleitet?

Eine trennscharfe Definition für „Reality TV“ existiert nicht. In der Regel sind es Sendungen, die wöchentlich erscheinen und einen Teil einer (Alltags-)Realität darstellen wollen.

Die Formatvielfalt ist groß: Castingshows („Germanys Next Topmodel“), Make-over-Shows („Shopping Queen“), Verkupplungsshows („Bachelor“), Sendungen, in denen Menschen im Alltag begleitet werden („Keeping Up With The Kardashians“) oder in denen Menschen an einem Ort zusammengepfercht werden und diese Situation aushalten sollen („Big Brother“), zählen dazu.

In Coronazeiten sind einige Produktionen ausgefallen, andere wurden statt an Orten in der Ferne, in Deutschland gedreht. Wie genau es zum Beispiel beim „Dschungelcamp“ weitergeht, steht noch nicht fest. Erst wurde es von Australien nach Irland verlegt. Jetzt soll es mit einem neuen Konzept in Deutschland stattfinden. In den meisten Shows ist ein Kontakt zur Außenwelt nicht vorgesehen. Deswegen können die meisten Produktionen auch während Corona leicht abgeändert im Konzept und nach einer Quarantänezeit der Kandidat:innen stattfinden.

Der Markt für Reality-Shows ist enorm. In Deutschland produzieren die Privatsender die meisten Shows, doch seit Kurzem hat auch Netflix ein eigenes „Unscripted“-Segment eingeführt. Und das mit Erfolg: 30 Millionen Haushalte sollen beispielsweise im ersten Quartal die Show „Love is Blind“ gesehen haben. Aber auch deutsche Angebote von RTL & Co finden viele Zuschauer:innen. 2019 war das „Dschungelcamp“ die erfolgreichste Sendung. Im Schnitt haben 2,7 Millionen Zu­schau­er:in­nen pro Folge in der Zielgruppe der zwischen 14- und 49-Jährigen zugesehen.

Mehr als Abschalten

Warum gucken Menschen sogenannte Trash-Formate? Um eigene Kränkungen und Zumutungen des Lebens kurz zu vergessen

Calvin genießt die Aufmerksamkeit der Frauen – was seine Freundin wohl dazu sagt? Foto: TVNow

Von Volkan Ağar

Wer schaut sich diesen Scheiß überhaupt an? Die Antwort lautet: ziemlich viele Menschen in Deutschland. Vergangenes Wochenende waren es laut quotenmeter.de 1,59 Millionen Menschen ab drei Jahren, die „Temptation Island VIP“ auf RTL geschaut haben, ein Marktanteil von 16,3 Prozent. Zum Vergleich: Der „Tatort“, Inbegriff des deutschen Wochenendausklangs mit quasireligiösem Kultcharakter, kam letzte Woche auf einen Marktanteil von 21,6 Prozent.

Was allgemeine Beliebtheit angeht, ist der Unterschied zwischen bildungsbürgerlichem Krimi und dem als Unterschichtenfernsehen verschrienen „Trash-TV“ überschaubar. Ohnehin scheint die Annahme mehr als zweifelhaft, dass es vor allem Arme und Ungebildete sind, die sich Müll-Formate reinziehen.

Trash-TV-Expertin Anja Rützel verweist in ihrem Buch „Trash TV. 100 Seiten“ auf das Beispiel „Dschungelcamp“ und eine Zuschauer:innenanalyse von 2015, die ergeben hat, dass jede:r dritte Zuschauer:in ein Abitur hat, jede:r vierte Akademiker:in ist. Auch wenn sie das Format als „Sonderfall“ der „restjährig Trash-Desinteressierten“ bezeichnet – „Doch wenn es schon mal Schund sein darf, dann wenigstens der beste Schund“ –, sind diese Zahlen, wenn auch nicht repräsentativ, doch mindestens interessant.

„Temptation Island VIP“ ist im Grunde die dritte Staffel von „Temptation Island“, diesmal aber mit sogenannten Promis: Vier Paare werden auf eine Insel geladen, wo sie ihre Liebe testen wollen. Dabei bewohnen die Männer und Frauen jeweils getrennte Domizile mit 12 hotten Singles des anderen Geschlechts, die zwei Wochen lang versuchen, sie zu verführen. Abends sitzen die vergebenen Männer und Frauen dann mit einer streng dreinschauenden Moderatorin am Lagerfeuer und bekommen häppchenweise Grenzüberschreitungen ihrer Partner:innen auf dem Bildschirm geliefert. Wenn krasse Sachen passiert sind, dann fließen auch mal Tränen, und später folgt eventuell Rache. Am Ende bleiben die Paare zusammen. Oder sie trennen sich.

Das Ganze eignet sich sicherlich zum abendlichen „Abschalten“, oder die Banalität des Angeschauten wird im Gegensatz zur anstrengenden Komplexität der Welt als erleichternd erlebt.

Es werden zudem gesellschaftliche Normen verhandelt: Wie haben Männer und Frauen (nicht) zu sein? Wie hat eine Partnerschaft (nicht) auszusehen? Lust verschafft beim Schauen bestimmt auch die Möglichkeit, verdrängte, weil tabuisierte Triebregungen – nicht nur sexuelle, sondern auch aggressive und unsoziale – ein Stück weit auszuleben.

Laut Ulrike Prokop, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft und psychoanalytische Kulturtheoretikerin, geht es jedenfalls weniger um das Gesagte. Im Sammelband „Doku-Soap, Reality-TV, Affekt-Talkshow, Fantasy-Rollenspiele“ aus dem Jahr 2006 analysiert sie das Format „Big Brother“ – und vertritt die These, dass es „um die faszinierende Betrachtung von Mustern der Selbstdarstellung“ gehe, um „sinnliche, nonverbale Inszenierung“. Zwischen der Rede und dem Seherlebnis klaffe eine Differenz. Die Rede, also auch die moralische Debatte unter Zuschauer:innen, diene dabei als „Vorwand für die Augenlust“.

Und woher kommt die Faszination für das, worüber nicht gesprochen wird? Von der Identifikation mit den perfekten Körpern und ihren Inszenierungen, die uns „das Schreckliche hinter dem Schleier“ kurzzeitig vergessen ließen, so Prokop.

Gemeint sind die eigene Unvollkommenheit und die erlebten Zumutungen des Lebens. Weil die Erinnerung an diese aber prompt wieder einkehre, falle die Wut auf die Charakterschwächen der Figuren, die sich dann doch auch zeigen, umso härter aus.

Man schaut Trash-TV also auch, weil man sich schlecht selbst dissen kann.

Wie weit zu weit ist

Eine Show ohne Drama funktioniert nicht. Doch wie viel darf gezeigt werden und wer übernimmt die Verantwortung dafür?

Andrej Mangold (r.) galt in „Sommerhaus der Stars“ als Mobber, er selbst fühlt sich von RTL falsch dargestellt Foto: TVNow

Von Carolina Schwarz

Was wirklich hinter den Kulissen einer Reality-Show passiert, können Zuschauer:innen nur ahnen. Wir sehen nur einen Teil von dem, was die Kandidat:innen tun – das Gezeigte ist sorgfältig ausgewählt und zusammengeschnitten. Und durch ausgewählte Konstellationen in Spielen oder gezieltes Fragestellen schüren Produzent:innen Konflikte. Wozu das in Extremfällen führen kann, zeigt die fiktive Serie „UnReal“, die das Leben hinter den Kulissen einer Verkupplungsshow zeigt – inklusive Suizid und Missbrauch. Die Produzent:innen schrecken darin vor keinem Druckmittel zurück, um „gute“ Bilder zu bekommen. Die Serie basiert lose auf den Erfahrungen der ehemaligen „Bachelor“-Produzentin Sarah Getrude Shapiro.

Die Serie mag überzogen sein, doch wer sich durch die verschiedenen deutschen Formate kämpft, kann sich vielleicht danach besser erklären, wie diese „Realität“ entsteht. Hinzu kommt, dass die Kandidat:innen wochenlang abgeschnitten von der Außenwelt leben – meist ohne Handy, Musik, Filme oder Literatur, dafür mit jeder Menge Alkohol. Da wundert es nicht, wie häufig es knallt.

Ohne Streitigkeiten, Eifersucht und Rachegelüste lässt sich nur schwer Spannung und damit Unterhaltung erzeugen. Doch wie viel Drama ist zu viel? Sind diskriminierende Beleidigungen, Mobbing, Gewalt und Belästigung noch Unterhaltung oder schon eine klare Grenzüberschreitung? Für ­Reality-TV ist es ein Spiel, diese Grenzen auszutesten. Für die Zuschauer:innen ist es ein moralisches Dilemma zu entscheiden, was für sie noch in Ordnung geht und was nicht.

Wie weit zu weit ist, lässt sich manchmal ganz einfach beantworten. In der vierten Staffel der US-amerikanischen Produktion „Bachelor in Paradise“ soll eine Teilnehmerin zu betrunken gewesen sein, um einem sexuellen Akt mit einem anderen Kandidaten zuzustimmen. Die Produzent:innen sollen nicht eingeschritten sein. Sexuellen Missbrauch zu billigen für „spannende“ Bilder – eindeutig eine nicht zu verteidigende Grenzüberschreitung. Nach einer Anzeige kam es zu einem Produktionsstopp und einer internen Untersuchung, die zu dem Schluss kam, dass der Produktion kein Fehlverhalten zuzuweisen sei.

Die Szene wurde nicht ausgestrahlt.

Das Geschilderte ist ein Ex­tremfall. Doch auch in deutschen Produktionen geht es manchmal zu weit. 2019 wurde Claudia Obert in der Sat1-Produktion „Promis unter Palmen“ so sehr von ihren Mitstreiter:innen gemobbt, dass sie die Sendung freiwillig verließ. Der ProSiebenSat.1-Vorstand Wolfgang Link sagte danach in einem Interview, dass die Sendung nicht zu weit gegangen sei. Viele widersprachen ihm. Unter anderem der Verein Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen. Dieser hatte nach einer Prüfung entschieden, dass die Folge nicht zur Primttime hätte ausgestrahlt werden dürfen und aus der Mediathek verschwinden muss.

Die aktuelle Staffel „Sommerhaus der Stars“ scheint das noch einmal zu übertrumpfen. Dort wird gespuckt, Frauen werden als „Fotze“ beleidigt und gemobbt. Während vielen Reality-TV-Fans es hier zu weit geht, ist die Sendung bei anderen gerade deswegen so beliebt. Das größte Mobberpärchen, den ehemaligen Bachelor Andrej Mangold und seine Freundin Jenny Lange, ist die Sendung jetzt zwar los. Doch das eigentliche Problem bleibt bestehen.

Wer trägt dafür die Verantwortung, dass „erfolgreiches“ Mobbing, Missbrauch und Beleidigungen im Fernsehen gezeigt werden? Die Kandidat:innen, die Produzent:innen, der Sender? Sie alle – und auch die Zuschauer:innen. Solange die Sendungen weiterhin so erfolgreich sind, werden wohl weitere Grenzen ausgetestet – und überschritten.