Felix Klein ein Jahr nach dem Anschlag in Halle: „Ängste sind wieder da“

Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein sorgt sich ein Jahr nach dem Anschlag in Halle um jüdische Gemeinschaft – und kritisiert Sachsen-Anhalts Innenminister.

Die neue Tür der Synagoge in Halle ein Jahr nach dem Anschlag

Hier scheiterte der Attentäter vor einem Jahr: die Tür zur Synagoge in Halle Foto: Hendrik Schmidt/dpa

taz: Herr Klein, vor einem Jahr attackierte ein Rechtsextremist die Synagoge in Halle und tötete zwei Menschen. Erinnern Sie sich noch, wie Sie damals davon erfuhren?

Felix Klein: Ja, ich war mit meiner Frau auf dem Weg von der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zurück nach Berlin. Es war ein Schock für mich, wie für alle. Wir hatten gerade zuvor wichtige Strukturen gegen den Antisemitismus auf den Weg gebracht, eine Bund-Länder-Kommission, das Meldesystem Rias. Und dann das. Ich fühlte mich sehr machtlos.

Der Täter wollte ein Massaker anrichten. Nur die Synagogentür hinderte ihn daran. Hätten Sie so eine Tat für möglich gehalten?

Dass ein Anschlag im Bereich des Möglichen ist, glaubte ich schon. Gerade wenn man sah, wie sehr sich der Ton im Internet radikalisierte. Aber solch eine hasserfüllte, menschenverachtende Tat in dieser Dimension hatte ich nicht erwartet.

Die Synagoge war damals nicht von der Polizei geschützt. Ein unverzeihlicher Fehler?

Unverzeihlich wäre es gewesen, wenn es vorsätzlich passiert wäre. Aber offenbar wusste die Polizei ja gar nicht, dass dort Jom Kippur gefeiert wurde und ein erhöhter Sicherheitsbedarf bestand.

Aber das ist doch genauso ein Problem.

der Jurist und Diplomat ist Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus.

Ja, natürlich. Das war eine Nachlässigkeit, die nicht hinnehmbar ist. Und dieser antisemitische Anschlag, der letztlich zwei Nichtjuden das Leben gekostet hat, war ja auch eine Zäsur. Er hat die Sicherheitsbehörden aufgerüttelt. Heute ist die Gemeinde in Halle permanent bewacht. Und die Polizei hat sich weiterentwickelt, der Umgang mit religiösen Feiertagen wurde verbessert.

Vor wenigen Tagen attackierte jedoch ein Mann vor einer Synagoge in Hamburg einen Gläubigen, verletzte ihn schwer. Wie sicher leben Juden in Deutschland noch?

Hamburg hat ja gezeigt, dass diesmal Schutzmaßnahmen griffen. Den Feiertag hatte die Polizei dort auf dem Schirm. Und die polizeilichen Objektschützer haben den Angreifer sofort verhaftet und weitere Gewalt verhindert.

Den Angriff auf den jungen Gläubigen aber nicht.

Absoluten Schutz kann es nicht geben. Aber natürlich sollte der Anschlag ein Anlass sein, um Sicherheitsmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen noch einmal zu überprüfen.

Also ist seit dem Halle-Anschlag zu wenig passiert?

Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall. Der Bund und die Länder mühen sich hier mit aller Kraft. Gerade erst hat das Bundesinnenministerium 22 Millionen Euro für bauliche Schutzmaßnahmen bereitgestellt, auch die Länder haben noch mal Geld in die Hand genommen. Zudem hat die Bundesregierung ein umfassendes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, etwa die Meldepflicht für Online-Hasspostings an das BKA, von der ich mir viel im Kampf gegen Antisemitismus verspreche. Denn die Klien­tel weicht zurück, wenn sie Gegendruck bekommt und die Polizei vor der Tür steht. Und wir haben in Halle ja gesehen, dass die Wurzel der Bedrohung eine Radikalisierung im Internet war.

Reicht das? Nach dem Hamburg-Angriff forderte der Zentralrat der Juden wieder mal mehr Schutz für Glaubenseinrichtungen und einen entschiedenen gesellschaftlichen Einsatz gegen Antisemitismus.

Es gibt sicher weiter Verbesserungsmöglichkeiten. Ich würde mir etwa wünschen, dass die Polizei bundesweit den jüdischen Kalender kennt und weiß, an welchen Anlässen besonderer Schutz nötig ist. Und richtig ist auch, dass der Staat die Sache nicht allein richten kann. Dafür braucht es eine mutige Zivilgesellschaft, die gegenhält, wenn sich Antisemitismus äußert. Das ist das Allerwichtigste. Ich glaube, der beste Schutz wäre, wenn jüdisches Leben viel stärker als etwas Selbstverständliches wahrgenommen würde, als Teil deutscher Diversität. Dafür müssen wir mehr tun.

Die Lage ist nach dem Halle-Anschlag und dem Angriff in Hambrug eine andere: Die jüdische Community fühlt sich massiv bedroht.

Ja, das nehme ich auch so wahr, sie ist sehr in Sorge. Und das ist ja auch sehr verständlich. Nachdem die Politik auf Halle reagiert hatte, war mein Eindruck, dass in der Gemeinschaft etwas Beruhigung eingetreten war. Aber jetzt sind die Ängste wieder da. Das müssen wir sehr ernst nehmen.

Ist das nicht gerade für Deutschland mit seiner Geschichte ein Armutszeugnis?

Diese Sorgen müssen uns alarmieren, absolut. Allein die Tatsache, dass jüdische Familien diskutieren, ob sie in Deutschland weiterleben können, ist mehr als ein Alarmsignal.

Sie sind als Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung unterstellt. Müssen Sie angesichts dessen nicht mehr Druck machen?

Wir unternehmen erhebliche Anstrengungen. Auch die Bundeskanzlerin persönlich ist sehr engagiert. Allen ist der Ernst der Lage bewusst.

Viele Betroffene aber sagen: Wir wollen nicht mehr Zuspruch, wir wollen Taten sehen.

Die hat es ja bereits gegeben. Viele der beschlossenen Maßnahmen müssen jetzt erstmal umgesetzt werden. Dennoch wird es in Kürze einen weiteren Maßnahmenkatalog geben, vom Kabinettsausschuss zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.

Im vorigen Jahr stieg die Zahl antisemitischer Straftaten um 13 Prozent, auf gut 2.000 Delikte. Was ist Ihre Erklärung dafür?

Der Anstieg ist vor allem der Verrohung im Internet geschuldet und den dortigen Volksverhetzungen und Holocaustleugnungen. Es gibt aber auch eine positive Erklärung: Die Betroffenen bringen diese Vorfälle stärker zur Anzeige. Das ist eine gute Entwicklung und etwas, zu dem ich auch ermutige. Den Hass sichtbar zu machen, ist der erste Schritt zur Bekämpfung.

Warum landet solcher Hass immer wieder bei antisemitischen Ausfällen?

Das wundert mich nicht. Der Antisemitismus ist so eingeübt in unserer Kultur, gerade in Zeiten von Unsicherheiten wird immer wieder darauf zurückgegriffen. Schon im Mittelalter wurden Juden für die Pest verantwortlich gemacht, heute wiederholt sich das beim Corona-Virus. Das ist wirklich fatal.

Gerade beförderte selbst Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) Antisemitismus, indem er auf Einsatzzeiten von PolizistInnen vor jüdischen Gebäuden verwies, die anderswo fehlten.

Juden als privilegierte Menschen hinzustellen, für die Maßnahmen auf Kosten der Allgemeinheit ergriffen würden, schürt tatsächlich Antisemitismus. Es geht nicht, dass Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Leider brauchen jüdische Gemeinden eine erhöhte Sicherheit, aber das liegt doch nicht an den Juden, sondern an der Bedrohung gegen sie. Und der Staat hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie ihre Religion uneingeschränkt ausüben können. Ich finde, er muss dafür auch 100 Prozent der Sicherheitskosten tragen. Denn es geht hier um ein Grundrecht.

Glauben Sie, der Antisemitismus lässt sich eines Tages besiegen?

Er lässt sich zumindest so weit zurückdrängen, dass die Lebensqualität erheblich verbessert werden kann. Davon profitiert die gesamte Gesellschaft, nicht nur die Juden. Die große Mehrheit in Deutschland ist demokratisch eingestellt und wachsam. Das gibt mir Hoffnung.

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