Zu Hause in der Möglichkeit

Konkretes Exil und abstrakte Heimat in den Plural gesetzt: Das Hamburger Kunsthaus zeigt eine Zusammenstellung von aktuellen Künstlerarbeiten und historischen Dokumenten

Reenactment erzwungener Flucht: Ergin Çavuşoğlus „Liminal Crossing“ Foto: Videostill: Ergin Çavuşoğlu

Von Hajo Schiff

Was wichtig genug ist, um es zu retten? Das bewertet jeder anders: Ausgerechnet das Klavier schieben Flüchtlinge über die bulgarisch-türkische Grenze im Video des Bulgaren Ergin Çavuşoğlu. Das Reenactment der Vertreibungen 1989 ist Teil einer Hamburger Ausstellung über die erzwungenen Lebensumwege exemplarischer Exilanten. Die Istanbuler Künstlerin Dilek Winchester entwickelte das Konzept, Katja Schroeder vom Hamburger Kunsthaus kuratierte die Zusammenstellung von aktuellen Künstlerarbeiten und historischen Dokumenten. Künstler stehen dabei aktiv und passiv im Zentrum – aber auch Pflanzen können als Beispiel dienen: Tulpen und Rosen und überhaupt die meisten der Gewächse in deutschen Gärten und Parks waren einst Immigranten.

Nicht die unstrittigen Probleme der Veränderung von einer Situation in eine andere werden thematisiert. Stattdessen werden die Möglichkeiten ausgelotet, emotionale Zugehörigkeiten zu entwickeln, die über verlorene Heimat und fremde Zuflucht hinausgehen. Der schwer verständliche Ausstellungstitel „The Futureless Memory“ bezieht sich auf die Schriften des türkisch-zypriotischen Psychiaters und Friedensforschers Vamuk Volkan: Gemeint ist damit in etwa, dass die zu starke Verhaftung in der Erinnerung an ein früheres Leben die Chance auf die Zukunft verbaut.

Das ist nicht die von den Zufluchtsgesellschaften gern eingeforderte Integration. Es geht vielmehr um eine individuelle Verfasstheit, in der neue Bezugssysteme möglich werden. Das geht vor allem gut in der Kunst und der Wissenschaft: Hier mag es besonders leicht sein, sich unabhängig von der speziellen Herkunft einer Community zugehörig zu fühlen. Schon im Foyerbereich des Kunsthauses zu hören, ist Conlon Nancarrow dafür ein Beispiel: Der US-amerikanische Komponist und Erfinder von höchst komplexen, fast nur durch Maschinen spielbaren Klavierpartituren war überzeugter Kommunist, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg und musste in den 1940er-Jahren ins mexikanische Exil gehen. Sein „Zuhause“ wurde die internationale Musikavantgarde.

Der französische revolutionäre Realist Gustave Courbet lebte ab 1873 in der Schweiz – seine Verwicklung in den Aufstand der Pariser Kommune zog seine Verfolgung nach sich. Mit den im Exil entstandenen Bildern des Genfer Sees wurde er zu einem eher angepassten Landschaftsmaler, ebenso wie 1941 Kurt Schwitters im britischen Internierungslager auf der Isle of Man: starke Brüche zu dem, was ansonsten ihr Werk ausmacht.

Den letzten Jahren des deutschen Wort- und Collagekünstlers Schwitters gewidmet ist nun die Installation „Sticks, Stones and Bones“ von Dilek Winchester. Ihren Hintergrund bildet eine der eindrücklichsten Wände der Ausstellung: Von oben bis unten zeigt sie die Fotos aller Seiten des Notizbuches, in dem Schwitters seine verloren geglaubten Arbeiten aus der Erinnerung festhalten wollte. Dabei blieben die meisten der sauber durchnummerierten Seiten leer – ein überdeutliches Zeichen für Verlust.

Die Ausstellung fragt nach der Möglichkeit von multiplen Identitäten jenseits nationaler Festlegungen – also einer im Wortsinne utopischen Heimat

Was beispielsweise im Kriegsjahr 1943 bekannten Künstlern widerfuhr, listet Francis Alÿs in einem großen Wandtext auf: Der italienische Maler Giorgio Morandi malte im inneren Exil, Picasso lebte unter deutscher Besatzung in Paris, Picabia amüsierte sich an der Côte d’Azur, Beuys war Stuka-Schütze und sein späterer Schüler Blinky Palermo wurde in den Ruinen von Leipzig geboren. Für die Documenta (13) in Afghanistan entwickelt, zeigt diese knappe Aufstellung in 33 Sätzen schlaglichtartig ein Bild dramatischer Verwerfungen.

Die Künstlerin und Musikerin Michaela Melián markiert mit sechzehn nackten Glühbirnen und einem – deren partiturhaften Aufleuchten zugeordneten – Geigensolo den Lebensweg der Violinistin Susanne Lachmann. Sehr erfolgreich im Hamburg der 1920er- und 1930er-Jahre, floh sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins schottische Elgin und konnte sich als Musikpädagogin gerade so über Wasser halten. Mit einer Installation aus bemaltem Gittertüll und Texten ehrt die Recherche-Künstlerin Judith Raum die am Bauhaus ausgebildete Otti Berger. Die Textilkünstlerin rettete ein Exil in Jugoslawien nicht vor der Ermordung in Auschwitz.

In der Türkei stärker präsent als hierzulande ist die Tatsache, dass nach 1933 viele deutsche Architekten, Künstler und Wissenschaftler dort Zuflucht fanden. Erinnert wird beispielsweise an den Literatur- und Kulturwissenschaftler Erich Auerbach, der nach seiner Entlassung in Marburg nach Istanbul berufen wurde und dort seine Hauptwerke schrieb. Erinnert wird an einen weiteren Philologen, Traugott Fuchs, der sich auch künstlerisch formulierte – sein Nachlass wird gerade von der Bosporus-Universität aufgearbeitet.

Alfred Heilbronn und Leo Brauner gründeten in ihrem Exil das Institut für Botanik und den Botanischen Garten in Istanbul. Der ist seit 2017 geschlossen und akut in seinem Bestand bedroht – Eda Aslan und Dilşad Aladağ versuchen mit Installationen und Aktionen den Garten oder wenigstens die Erinnerung daran zu retten. Neben den Hochbeeten der syrisch-palästinensisch-griechischen Wissenschaftlerin, Schriftstellerin und Künstlerin Nadia Christidi ist dies die zweite Arbeit, die Wanderungs- und Verwurzelungsprozesse in der Metapher der Pflanzen betrachtet.

Zeichen für Verlust: Dilek Winchester setzt sich mit Kurt Schwitters’ Suche nach verloren geglaubten Arbeiten qua Erinnerung auseinander Foto: Dilek Winchester

Auch aus der Türkei kam es immer wieder zu Ausweisungen, besonders von Griechen, auch noch 1964. So verfolgt eine Arbeit das Schicksal der akademisch ausgebildeten Künstlerin Ivi Stangali, von der heute noch die Illustrationen zur türkischen Ausgabe der Ilias oder von „Utopia“ fassbar sind, die aber in ihrer neuen Zwangsheimat Athen vergessen wurde.

Der syrische Konzeptkünstler und Aktivist Khaled Barakeh, Jahrgang 1976, mit Studio in Berlin und international erfolgreich, zeigt ganz direkt seine „Futureless Memories“: Vor kurzem hat er seine frühe akademische Malerei aus Damaskus geholt, ein Konvolut aus Leinwänden, für die heutigen Betrachterinnen und für ihn selbst eine Erinnerung an eine inzwischen fremde Welt und eine Zeit, die des Künstlers Weg eben nicht mehr bestimmen wird.

Diese Ausstellung befasst sich nicht mit anklagender Darstellung der politischen Ursachen von Flucht oder der aktuellen Situation Geflüchteter. Bei aller sichtbar werdenden Dramatik einzelner Biografien fragt sie nach der Möglichkeit von multiplen Identitäten jenseits nationaler Festlegungen – also einer im Wortsinne utopischen Heimat. Ein schwieriges Unterfangen, wie auch die Videoperformance der syrischen Künstlerin Samara Sallam zeigt, die inmitten der algerischen Wüste auf surreale Weise eine bergende Vorortung sucht.

„The Futureless Memory“: bis 22. 11., Kunsthaus Hamburg, Klosterwall 15

www.kunsthaushamburg.de