berliner szenen
: Zeig mir deine Zahnlücke!

Eine Freundin von mir achtet sehr genau darauf, wie die Zähne ihrer Mitmenschen aussehen. Sie bewertet das nicht, sie macht nur exakte geistige Bilder davon und sammelt sie im Kopf. Sie weiß, ob sie schief oder gerade, ob groß oder klein, ob gelb oder weiß sind, und könnte ihre Freund*innen anhand ihrer Gebisse wiedererkennen. Wenn sie jemanden beschreiben soll, wird sie nicht „die mit den Locken“ oder „der mit den braunen Augen“ sagen, sondern vielmehr: „Der mit den scharfen Eckzähnen“. Oder: „Die mit der Zahnlücke“.

Als sie nach meinem Fahrradunfall meinen halben Schneidezahn sieht, wird sie kurz nachdenklich und sagt: „Unglaublich, wie Zähne Menschen verändern können.“

Einige Tage später, als ich bei meiner neuen Zahnärztin sitze, erzähle ich ihr und den zwei jungen Zahnarzthelferinnen von der Freundin, die sich gerne Zähne anguckt. Sie werfen sich gegenseitig Blicke zu und kichern hinter ihrem weißen Mundschutz. Dann erfahre ich, dass die Zahnärztin bald in den Urlaub fährt und es mit der Behandlung des kaputten Zahns deshalb länger dauern wird. „Es ist okay. Ich gewöhne mich daran“, sage ich, und die zwei Zahnarzthelferinnen kichern wieder. Als ich erwähne, manche Freund*innen würden mir sagen, dass ich die Zahnlücke behalten sollte, lachen sich alle drei kaputt, als hätte ich den lustigsten Witz überhaupt erzählt. „Oder lieber nicht?“, frage ich.

Dass sie dort miteinander und bei der Arbeit Spaß haben, mochte ich sofort, als ich das erste Mal voller Schmerzen im Wartezimmer saß und ihr Gelächter durch die Wand hörte. Auch schön finde ich, dass sich die Praxis in einem Altbau mit hoher Decke und Holzdielen befindet und dass dort keine Zeitschriften, dafür aber Trommeln in der Kinderecke liegen. Als ich dabei bin zu gehen, drückt mir die Zahnärztin mein Röntgenbild in die Hand. „Ein Souvenir für Ihre Freundin“, sagt sie. Luciana Ferrando