Der Fotograf als Künstler und Reporter

Welt aufschließen, Geschichte festhalten, Stellung beziehen, Reflexionen anregen: Der European Month of Photography lädt in Berlin zu 114 Ausstellungen ein

Ernst Thormann, Zeitungsjunge1929, Modern Print Ernst-Thormann-Archiv Foto: Bröhan-Museum

Von Thomas Winkler

Im Jahr 1932 erscheint in der Zeitschrift Der Arbeiter-Fotograf ein Aufruf. Der Leser soll zwar nicht gleich zur Waffe, aber doch zur Kamera greifen. Er soll „lebenswahre Bilder“ schießen, um „die tieferen politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge der Dinge zu erfassen“. Der Aufruf gipfelt in dem Appell: „Hier Foto als Kampfmittel – dort Foto als Zeitvertreib. Nun entscheide Dich!“

Kurt Pfannschmidt, Ernst Thormann und Richard Woike hatten sich entschieden. Die drei waren Arbeiter – und ihre Fotos aus den späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren, die jetzt unter dem Titel „Der proletarische Blick“ im Bröhan-Museum ausgestellt werden, waren alles andere als Zeitvertreib. Sie dokumentierten Arbeiteraufmärsche und -sportfeste, Demonstrationen und Arbeitsalltag, aber auch die Freizeitkultur der Arbeiterschaft vom Rummel auf dem Hermannplatz bis zum Training des Frauenkegelklubs.

Richard Woike, Städtische Volksspeisung, o. J., Originalabzug, Ernst-Thormann-Archiv Foto: Bröhan-Museum

Sie fotografierten die Arbeitslosen auf den Straßen, die Schlangen vor der Volksspeisung, Menschen, die im Müll nach Brauchbarem suchen, aber auch die Reichen, die nach dem Besuch im Tanzlokal noch ein Almosen verteilen.

Kinder spielen Betrunkene

Sie fotografierten, das ist auffällig, immer wieder Kinder. Kinder, die auf einer Brache in der Nähe des Alexanderplatzes im Sand spielen, Kinder, die Tüten falten, und Kinder, die das Elend, das sie und ihre Eltern inmitten der Weltwirtschaftskrise erleben, nachstellen, indem sie sich als Prostituierte und Betrunkene verkleiden.

Die Ausstellung (bis 24. Januar 2021) ist nicht allzu umfangreich, aber geschickt kuratiert. Die Fotos werden in Kontrast gesetzt zum Film „Kuhle Wampe“, der auf einem Bildschirm läuft, direkt gegenüber von Aufnahmen, die Ernst Thormann auf dem allerersten Arbeiterzeltplatz Deutschlands an der Kuhlen Wampe gemacht hat, und Titelbildern des „Arbeiter-Fotograf“. Da springt einen die Schlagzeile an: „Der Arbeiter-Fotograf als Reporter und Künstler“.

Marie Tomanova, Rico (New York series) Foto: Marie Tomanova/Tschechisches Zentrum Berlin

Pfannschmidt, Thormann und Woike orientierten sich mitunter an der Ästhetik des Bauhaus, aber grundsätzlich haben sich die drei Arbeiterfotografen nicht so sehr als Künstler, sondern als Aktivisten verstanden. Die Fotografie war ihnen Mittel zum Zweck, trotzdem können wir ihre Fotografien heute nicht nur als zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch als Kunst sehen.

Das ist ein Spannungsfeld, das in den meisten Ausstellungen des European Month of Photography (EMOP) spürbar ist. „Der proletarische Blick“ ist nur eine von 114 über die ganze Stadt verteilten Ausstellungen mit Bildern von mehr als 500 Fotografinnen und Fotografen. Unter dem EMOP-Dach laufen große Schauen wie die Harald-Hauswald-Retrospektive im c/o Berlin am Zoo oder „Masculinities: Liberation Through Photography“ im Gropius-Bau mit Bildern von Richard Avedon, Robert Mapplethorpe oder Laurie Anderson, die die politisch-gesellschaftliche Dimension schon im Titel trägt.

Marie Tomanova, Jass (New York series) Foto: Marie Tomanova, Tschechisches Zentrum Berlin

Viele Zigaretten, viel Schorf

Zu sehen sind aber auch viele Ausstellungen in Galerien oder Kulturhäusern wie dem Tschechischen Zentrum. Dort werden die Bilder von Marie Tomanova ausgestellt, die bunt bis grell, plakativ und erst einmal oberflächlich scheinen, aber doch nicht so weit weg sind von der nahezu ein Jahrhundert älteren Arbeiterfotografie – zumindest ideell (bis 14. November 2020). Denn Tomanova kontrastiert in „Live For The Weather“ ihre Porträts einer Großstadtjugend, auf denen viel nacktes, fahles Fleisch und Netzhemden, viele aufgerissene Augen, viele Zigaretten, viel Schorf, viel Intimität in Selfie-Ästhetik zu sehen ist, mit unschönen Stadtlandschaften oder einem alten Mann, der struppige Ponys durchs Dorf treibt. Dokumente eines Lebens im globalen Kaff in einem Europa, das sich immer schwerer damit tut, ein Europa der Regionen zu bleiben.

Das ist auch das Thema von „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“ in der Akademie der Künste am Pariser Platz (bis 10. Januar 2021). Hier zeigen die Fotografinnen und Fotografen der Agentur Ostkreuz 21 neue Arbeiten, die sich mit Identität und Patriotismus, dem ganz alltäglichen Erbe des Kolonialismus, der Protestkultur, dem Ausdruck des Kapitalismus in der Architektur oder den sichtbarsten Folgen von Corona beschäftigen. Wenn Frank Schinski beobachtet, wie Jobgespräche und Bewerbungsprozesse ablaufen, dann entstehen nicht nur Tableaus von erschreckender Schönheit, sondern eine Auseinandersetzung damit, wie der Neoliberalismus den Menschen deformiert.

In der Akademie der Künste: Ute Mahler und Werner Mahler, Der Rhein bei Walsum, 2019, aus der Serie An den Strömen, 2019–2020 Foto: © Ute Mahler und Werner Mahler/Ostkreuz

Solche Arbeiten, die von sehr viel mehr erzählen als nur vom abgebildeten Gegenstand, finden sich immer wieder im unüberschaubaren Ausstellungsprogramm. So hat sich Andreas Mühe mit Tschernobyl beschäftigt. Er hat für „Hagiographie Biorobotica“ in der St. Matthäus-Kirche am Rande des Kulturforums die sogenannten „Liquidatoren“ in Szene gesetzt, die 1986 den explodierten Atomreaktor beräumen sollten (bis 14. Februar 2021).

Bilder wie Särge

In der Akademie der Künste: Jordis Antonia Schlösser, Jüdisches Gemeindezentrum in Łódź, 2018, aus der Serie Die unerwartbare Generation – Neues jüdisches Leben in Osteuropa, 2016–2018 Foto: Jordis Antonia Schlösser/Ostkreuz

Der damals sechsjährige Mühe sah die Figuren, ihre Uniformen und improvisierten Schutzanzüge im Fernsehen und war fasziniert. Nun hat er diese Verkleidungen, die mal an medizinisches Fachpersonal, öfter noch an Insekten oder an Superhelden erinnern, nachgestellt und sie vor dunklem Hintergrund und mit harten Kontrasten in dramatischer und durchaus religiös gemeinter Ikonografie inszeniert. So räumt Mühe mit einem Mythos auf und schafft absurderweise Bilder, die in der Rückschau wahrhaftiger erzählen, als es die TV-Bilder oder die Fotografien von damals jemals konnten – und erst recht nicht sollten.

Die Ästhetik erinnert zwar an Mühes vorherige, eher umstrittene Arbeit „Mischpoche“, in der er seine eigene berühmte Schauspielerfamilie, inklusive verstorbener Mitglieder, als Silikonpuppen, in Szene setzte. Aber diesmal erfüllt das ähnliche Verfahren den umgekehrten Zweck und lässt die nachgerade religiöse Überhöhung leer und schal erscheinen – gerade in einer Kirche, in der die Bilder der Liquidatoren nun groß und dunkel, Särgen gleich auf dem Boden liegen. Wenn man so will, hat Andreas Mühe die ein knappes Jahrhundert alte Forderung des „Arbeiter-Fotografen“ erfüllt: „Seine Lichtbilder müssen also Waffen sein und keine mehr oder weniger ästhetischen Idyllen des Privatlebens.“

European Month of Photography, bis 31. 10. Einige Ausstellungen laufen länger. Mehr unter ww.emop-berlin.eu