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: Mit jedem Teebeutel ein Liter Tee

Eigentlich ist der Morgen ganz schön. Ich liege im Bett mit meinem Laptop und spiele im Internet Blitzschach. Erst ein paar Dreiminutenpartien, um meinen Kopf auf Betriebstemperatur zu bringen, dann Fünfminutenpartien, um beim Spielen auch ein bisschen nachdenken zu können. Meist spiele ich das Blackmar-Diemer-Gambit, eine actionreiche Eröffnung aus den frühen 1950er Jahren, die den Vorteil hat, dass sie nur selten gespielt wird und der Gegner häufig in Fallen tappt.

Die Philosophie von Emil Joseph Diemer war: „Vom ersten Zug an auf Matt.“ Ein Schulfreund hatte mir die Eröffnung in den 1980er Jahren gezeigt, als ich manchmal exzessiv spielte. Später hatte ich mir ein hellblaues Buch mit dem Titel „Das moderne Blackmar-Diemer-Gambit“ gekauft, es allerdings nie zu Ende studiert und bei irgendeinem Umzug dann wieder verloren. Schnell kommt man mit der Eröffnung allerdings auch in die Bredouille.

Zwischendurch lese ich Zeitungen aus dem Digitalangebot der Amerika Gedenkbibliothek. Manchmal erklingen Signaltöne, weil ich dem Sender CNN irgendwann erlaubt hatte, mir Töne zu schicken und bis jetzt zu faul bin, meine Erlaubnis wieder zurückzuziehen.

So geht der Vormittag im Bett vorbei und danach wird gelüftet. Zumindest hat mich Corona gelehrt, wie das geht, auch wenn kein Durchzug möglich ist: man nimmt einfach einen Ventilator und pustet damit die Zimmerluft durch die geöffnete Balkontür nach draußen.

Danach geht es zu M. Weil es kälter ist, geht es dem Ex-Revolutionär aus den 70er Jahren wieder schlechter. Mir aber auch.

Wir spielen Schach. Ich trinke Tee. Er gewinnt das erste Mal seit Monaten und das zweite Spiel auch. Ich ärgere mich ein bisschen und schiebe es darauf, dass er mich gezwungen hatte, die Partei zu notieren, muss dann aber auch schon wieder gehen, weil das Fußballspiel im Internet gleich anfängt.

Draußen sind viele Leute unterwegs. Ein weiteres letztes Sommerwochenende, mit dem man sich von dem Coronasommer verabschieden kann. An der Prinzenstraße sehe ich einen Fahrradfahrer im Backpacker-Style, der mit großer Lautsprecherbox auf dem Gepäckträger langsam Richtung Südstern und Hasenheide fährt. Erst halte ich ihn für einen Verpeilten, dann scheint es doch jemand zu sein, der junge Leute zu irgendwelchen illegalen Party lotsen möchte.

Ich bin angeschlagen. Zu Hause suche ich fahrig nach meinem Tabak. Ich muss rauchen, wenn ich ein Schalke-Spiel gucke. Zum Glück finde ich den Tabak auf dem Boden vor meinem Schreibtisch. Leider liegen wir schon Dreinull hinten.

Irgendwann in der zweiten Halbzeit ruft M. an und fragt wütend, ob ich den gebrauchten Orange-Ingwer-Teebeutel, der auf dem Küchentisch lag, in den Müllbeutel geworfen hätte. Ich weiß nicht so recht, was das soll, und sage: keine Ahnung. Immer wütender schimpft er auf mich ein.

Ganz bewusst habe er diesen gebrauchten Teebeutel auf den Küchentisch gelegt. Seit Jahren schon verwende er jeden Teebeutel dreimal. Mit jedem Teebeutel lasse sich so ein Liter Tee herstellen. Was ich mir denn einbilden würde. Ich sage: du spinnst; es sind noch mindestens zehn neue Teebeutel in deiner „Orange-Ingwer“-Packung. Und lege auf, kurz bevor meine Mannschaft das 0:4 kassiert.

Wahrscheinlich war er unterzuckert, vielleicht gab es Nebenwirkungen bei seinen Schmerzmitteln; die Handlungsmöglichkeiten von M. waren sehr eingeschränkt. Wenn ich mich ärgerte, konnte ich einfach meinen Fernseher aus dem Fenster schmeißen; wenn er sich ärgerte, konnte er nur Pflegekräfte beschimpfen oder halt mich. Lustig ist auch, dass M., genauso wie der Moderator und Ex-Ost-taz-Chef Jürgen Kuttner, einen Bruder hat, der, genau wie er, von engen Freunden nur mit Nachnamen gerufen wird.

Detlef Kuhlbrodt