die woche in berlin
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Die Grünen kamen überraschend mit einer Hinterbänklerin als Spitzenkandidatin um die Ecke. Die Pop-up-Bikelanes dürfen nach einer Gerichtsentscheidung wohl dauerhaft bleiben. Und der rot-rot-grüne Senat hat seine nach Vergesellschaftung schreiende Machtlosigkeit bei der Räumung der Liebig 34 demonstriert

Ein Fall von grün-interner Blockade

Nicht Pop oder Kapek, sondern Jarasch wird Spitzenkandidatin

Es muss ziemlich brodeln unter der gerade so glatten Oberfläche der Grünen. Denn wenn eine Partei zwei sehr erfahrene Führungsfrauen hat und sich doch nicht auf eine der beiden als Spitzenkandidatin festlegen kann, dann wirft das Fragen auf. Genau das tut die Vorstellung von Bettina Jarasch als grüne Spitzenkandidatin für 2021. Eine Erklärung wäre, dass man die beiden – Vizeregierungschefin Ramona Pop und Fraktionschefin Antje Kapek – gar nicht für so fähig hält. Dann aber müssten die Grünen erklären, warum sie den beiden ihre wichtigsten Posten anvertraut – und wieso der allgemeine Eindruck nicht einer von Unfähigkeit ist.

Die wahrscheinlichere Erklärung: Die Anhänger der einen mochten die jeweils andere auf keinen Fall als Spitzenkandidatin und mögliche Regierungschefin sehen. Also musste ein Kompromiss her und Jarasch ran, hervorgeholt aus der drittletzten von sechs grünen Sitzreihen im Abgeordnetenhaus. Es war bezeichnend, dass die 51-Jährige bei ihrer Vorstellung am Montag davon sprach, sie sei „als Brückenbauerin bekannt“. Das soll helfen, Klüfte zu überwinden – als künftige Regierungschefin, aber offenbar auch in der eigenen Partei.

Die Sache ist bloß, dass Jarasch vor dreieinhalb Jahren mit derselben „Brückenbauerin“-Wortwahl für sich als Bundestagskandidatin geworben hat, die Grünen sie aber durchfallen ließen – trotz großen Einsatzes in fast sechs Jahren als Landesverbandschefin. Es ehrt Jarasch, dass sie den Job trotz dieser Klatsche übernimmt. Aber wenn eine Spitzenkandidatur ausdrücken soll, dass eine Partei hier ihre beste, bekannteste oder erfahrenste Kandidatin zur Wahl stellt, dann kann Jarasch diesen Anspruch nicht erfüllen.

Pop und Kapek sind seit 2001 und 2011 im Parlament. Seit Ende 2016 sind beide Teil der Regierung – ja, auch Kapek, weil trotz aller formalen Gewaltenteilung die Fraktionsspitzen an den Senatssitzungen teilnehmen. Pop hat sich während der Coronapandemie als krisenfest erwiesen. Trotzdem kennen bei Umfragen viele selbst sie nicht, geschweige denn Kapek. Wer soll dann außerhalb des Grünen-Kosmos Jarasch kennen?

Man kann argumentieren, das sei völlig egal, weil die Berliner Grünen im Windschatten ihrer Bundesspitze Baerbock/Habeck ohnehin ins Rote Rathaus kommen. Da ist etwas dran, weil ein Teil der Wählerschaft einfach nicht zwischen Bundes- und Landesebene unterscheidet – umso mehr, wenn wie 2021 Abgeordnetenhaus und Bundestag am selben Tag zu wählen sind.

Wegen der Coronakrise aber könnte das anders aussehen. Wenn es nicht um visionäres Brückenbauen, sondern um kurzfristiges Problemlösen geht, sind Macher gefragt. Genau diesen Ruf hat die designierte SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey: langjährige Stadträtin in Neukölln, Bundesministerin – das sind andere Führungserfahrungen als die einer Landesvorsitzenden zu Oppositionszeiten. Bislang geben die Umfragen zwar noch nicht her, dass Giffey die SPD wieder nach oben bringt. Aber welche Partei letztlich die richtige Wahl getroffen hat, wird das Aufeinandertreffen der beiden in der Landespolitik zeigen.

Stefan Alberti

Totgesagte Radstreifen leben länger

Die „Pop-up-Bikelanes“ können nach OVG-Urteil vorerst bleiben

So richtig überraschend war der Beschluss des Oberwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg vom Dienstag eigentlich nicht. In der Sache „Pop-up-Radwege“, die ein autoverliebter AfD-Abgeordneter wegklagen will, gab es dem Verlangen des Senats nach Aufschub nach: Die seit April auf etlichen Straßen quasi über Nacht erschienenen, provisorisch markierten Fahrstreifen – die später alle „verstetigt“ werden sollen – dürfen erst mal bleiben. Zumindest so lange, bis die RichterInnen an der Hardenbergstraße über die Beschwerde der Landesregierung gegen den Spruch des Berliner Verwaltungsgerichts entschieden haben.

So zackig, wie sich das der AfDler Frank Scholtysek vorgestellt hatte, geht es dann eben doch nicht – er hatte, gleich nachdem die Erstinstanz ihm recht gegeben hatte, getwittert, er werde nun regelmäßig auf den Strecken nachsehen, ob die gelben Streifen und Warnbaken noch da seien. Und nicht nur, dass viele ExpertInnen dem erstinstanzlichen Spruch wenig Substanz beimaßen: Die Senatsverkehrsverwaltung hat auch ein paar Hausaufgaben gemacht. Sie lieferte ausführliche Begründungen nach, weshalb die neuen geschützten Radstreifen ganz konkret für die Sicherheit auf den jeweiligen Straßen notwendig sind.

Diesen Nachweis nämlich verlange die deutsche Straßenverkehrsordnung (StVO), hatte das Verwaltungsgericht entschieden – wobei eine andere Lesart der Paragrafen nahelegt, dass dies für die Anlage von Radstreifen nicht gilt. Wie dem auch sei, unter Berücksichtigung der nachgereichten Unterlagen sei die Entscheidung des Verwaltungsgerichts „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Ergebnis fehlerhaft“, befand das OVG nun und strich Scholtysek auch noch Folgendes mit aufs Brot: Die öffentlichen Belange überwögen hier die privaten Interessen des Antragstellers. Dessen „nicht näher belegte Einschränkung“ sei „nicht schwerwiegend“, die Fahrtzeiten verlängerten sich nur „minimal“.

Von der endgültigen Entscheidung wird in jedem Fall eine Menge abhängen. Denn es schien sich eine verhängnisvolle Lücke aufgetan zu haben zwischen dem, was das Berliner Mobilitätsgesetz fordert – sichere Radverkehrsanlagen auf allen Hauptstraßen –, und dem, was die StVO überhaupt zulässt. In Friedrichshain-Kreuzberg, wo die Pop-up-Wege erfunden wurden und wo es die meisten davon gibt, ist man heilfroh über die Richtung, welche die Justiz nun offenbar einschlägt. Immerhin ist in der Kreuzberger Lindenstraße schon der nächste temporäre Radstreifen in Arbeit, und auch für das kommende Jahr hat Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) nicht weniger als zehn Kilometer neue Radverkehrsanlagen angekündigt.

Aber auch der Bezirk sollte seine Hausaufgaben machen. So richtig klar ist in etlichen Fällen nämlich noch nicht, wie Anlieferungen und Umzüge stattfinden können, wenn bei der Anlage eines geschützten Radstreifen kein Platz mehr für einen Parkstreifen ist. Nach Auskunft des Bezirksamts werden hier individuelle Konzepte geprüft. Claudius Prößer

Wenn der Markt herrscht, ist es egal, wer regiert

Die Räumung der Liebig34 zeigt: Es gibt keine Kontrolle

Mit der am Freitagvormittag vollendeten Räumung des Hausprojekts Liebig 34 verliert Berlin einen weiteren Ort, der die Stadt seit dem Fall der Mauer so interessant gemacht hat. Die Lebendigkeit Berlins ging nie von ihren Bürotürmen, Townhouses oder Mercedes-Benz-Plätzen aus, sondern von ihren Freiräumen, selbstverwalteten Strukturen, ihrer Kultur und Politik von unten. All dies wird seit Jahren zerstört, unabhängig von der jeweiligen Regierungsmehrheit.

Die Wut der Bewohner*innen und Sym­pathi­sant*innen der Liebig 34, deren Geschichte nach mehr als 30 Jahren zu Ende gegangen ist, ist daher verständlich. Dutzende Demonstrationen, spektakuläre Aktionen wie die Besteigung des Molecule-Man, Allianzen mit der etablierte Kulturszene oder ausdauernde juristische Bemühungen zeugen von einem bedingungslosen Engagement für den Erhalt ihres Projektes. All dies blieb ohne jeden Erfolg. Übrig blieb nur noch die Wut.

Mit militanten Attacken auf die Polizei, Immobilienfirmen und Parteibüros im Vorfeld ließ sich aber kein Staat gewinnen. Außer in der Form eines noch martialischeren Einsatzes, der jeden nachvollziehbaren Rahmen sprengte. Die Polizei zog ins Feld, als galt es, einen bewaffneten Aufstand niederzuschlagen. Tatsächlich konnte sie damit das für den Räumungstag angekündigte Chaos in sehr begrenztem Rahmen halten. Das allerdings liegt auch an den Autonomen selbst, die längst nicht mehr so handlungsfähig sind wie etwa Anfang der 1990er Jahre bei der Räumung der Mainzer Straße. Die Drohung im Vorfeld, notfalls auch das SEK einzusetzen, wirkt nun noch absurder. Aber sie war eine Grenzüberschreitung, mit der der Möglichkeitsraum eröffnet wurde, notfalls auf Demonstrant*innen zu schießen. Weißrussland kann näher sein, als man denkt. Für diese unangemessene staatliche Gewaltdemonstration trägt Rot-Rot-Grün die politische Verantwortung.

Gleichwohl ist der Verlust der Liebig 34, wie schon zuvor der Kneipe Syndikat, nicht einem Versagen der Regierungsparteien zuzuschreiben. Dass der Räumung nichts entgegengesetzt werden konnte, ist Ausdruck der politischen und gesellschaftlichen Handlungsunfähigkeit in einem privatwirtschaftlichem Wohnungsmarkt. Wo der Zugriff auf Wohnraum privaten Spekulanten überlassen ist, kann der Staat die gesetzlich gedeckten Profitinteressen eben nur noch ausführen. Wenn der Markt herrscht, ist es egal, wer regiert. Für eine demokratische Gesellschaft ist das ein Armutszeugnis.

Die Antwort auf den Schlamassel kann nur die Stärkung staatlicher und gemeinwohlorientierter Akteure auf dem Wohnungsmarkt sein. Der größte und radikalste Ansatz dafür ist das Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co enteignen. Die Vergesellschaftung hunderttausender Wohnungen wäre die demokratische Antwort auf die profitgetriebene Zerstörung der Stadt. Es ist womöglich die letzte Möglichkeit, dass Berlin auch in Zukunft noch interessant und lebendig bleibt. Erik Peter

Wo der Zugriff auf Wohnraum privaten Spekulanten überlassen ist, kann auch ein rot-rot-grüner Senat Profitinteressen eben nur noch ausführen

Erik Peter über den martialischen Polizeieinsatz bei der Räumung der Liebig 34