Studiengang auf wackligen Füßen

Mit großen Zukunftsplänen startete zum Wintersemester 2012/2013 an der Oldenburger Carl-von-Ossietzky-Universität ein grenzübergreifender Medizinstudiengang, der rasch an finanzieller Schwindsucht litt. Nun gibt es eine Millionen-Spritze vom Land. Fraglich ist, ob sich der Aufwand lohnt

Der Bericht des Rechnungshofs fällt vernichtend aus. Die Prüfer attestieren dem Oldenburger Modellstudiengang „finanzielle und konzeptionelle Schwachstellen“ und empfehlen, die aktuelle Zahl der Studierenden von 80 nicht weiter zu erhöhen

Aus Oldenburg Christina Gerlach

Oldenburgs Medizinstudiengangs hat ernsthafte Problem. Das wurde spätestens Ende 2018 klar. Damals tauchten die 142 Millionen Euro für ein dringend benötigtes Forschungs- und Laborgebäude nicht in der Haushaltsplanung der niedersächsischen Landesregierung auf. Ohne den Neubau wären die Pläne, bis 2025 in Oldenburg 200 Studienplätze für angehende Mediziner zu schaffen, vom Tisch gewesen.

Erklärtes Ziel der 2012 gegründeten European Medical School (EMS) ist die Linderung des dramatischen Landarztmangels in Niedersachsen. An dem Studiengang sind vier Krankenhäuser in Oldenburg beteiligt sowie die Klinik der niederländischen Universität Groningen. Die niederländische Beteiligung ist eine tragende Säule des Konzepts, Studierende müssen mindestens ein Jahr ihrer Ausbildung dort absolvieren.

Bis zum Sommer dieses Jahres brauchte der Nordwesten, um die längst schrillenden Alarmglocken zu bemerken und Druck auf die Landesregierung in Hannover zu organisieren. Die Unispitze in Oldenburg, der Oberbürgermeister, Abgeordnete aus Weser-Ems und auch die regionale Wirtschaft machten sich für die Medical School stark. Eine stille Beerdigung war nicht mehr möglich.

Die Niederländer hatten schon Anfang des Jahres signalisiert, dass sie in Oldenburg fehlende Laborkapazitäten nicht auffangen könnten. Eigentlich ein unübersehbares Warnsignal, doch die Verantwortlichen an der Carl-von-Ossietzky-Universität vertrauten erst einmal darauf, dass die Politik sie schon nicht im Stich lassen würde. Immer wieder wurde der Koalitionsvertrag zwischen Niedersachsens Regierungsparteien CDU und SPD zitiert, der 200 Medizin-Studienplätze in Oldenburg versprach.

Doch auch in diesem Sommer machte Niedersachsens Finanzminister Reinhold Hilbers (CDU) noch immer keine Anstalten, die Millionen für das neue Unigebäude locker zu machen. Obwohl sein Kabinetts- und Parteikollege, Wissenschaftsminister Björn Thümler, darauf drängte. Die Summe tauchte auch im Haushaltsplan für 2021 nicht auf.

Dabei müsste gerade dem Finanzminister, der in der Grafschaft Bentheim zu Hause ist, das Hauptanliegen des Studiengangs doch nahe­gehen: Landärzte auszubilden. Der dramatische Ärztemangel auf dem Land war der Türöffner, um eine medizinische Fakultät in Oldenburg zu etablieren. Die Gründer setzen dabei auf den „Klebeeffekt“: Absolventen lassen sich nach dem Studium gern in der Nähe nieder. Von Oldenburg nach Ostrhauderfehn ist es eben nicht so weit wie von den traditionsreichen niedersächsischen Medizinstandorten Hannover und Göttingen. Dort beginnen jedes Jahr 270 und 390 Nachwuchsmediziner ihr Studium.

Aber Finanzminister Hilbers ließ Wissenschaftsminister Thümler abblitzen. Das Verhältnis zwischen beiden sei nicht das beste, heißt es. Möglicherweise hatte der Finanzminister aber auch den aktuellen Jahresbericht des Landesrechnungshofs studiert und danach erhebliche Zweifel bekommen, ob die Millionen in Oldenburg tatsächlich gut angelegt sind.

Der Anfang September veröffentlichte Bericht fällt ziemlich vernichtend aus. Die Prüfer attestieren dem Oldenburger Modellstudiengang „finanzielle und konzeptionelle Schwachstellen“ und empfehlen, die aktuelle Zahl der Studierenden von 80 nicht weiter zu erhöhen. Die vorgesehenen Mittel seien an den Medizinstandorten Hannover und Göttingen besser angelegt.

Dem Rechnungshof erscheint ein Ausbau des Medizinstudiengangs in Oldenburg ein riskantes Unterfangen zu sein. Dem geplanten 142 Millionen-Neubau müssten weitere Gebäude folgen, um allen Studierenden Platz zu bieten. Die Personalkosten würden sich von derzeit 27,4 Millionen Euro jährlich auf 48,5 Millionen Euro erhöhen, denn für die zusätzlichen Studierenden bräuchte es entsprechend mehr Professoren. Außerdem hätten allein die vier beteiligten Oldenburg Kliniken einen Investitionsbedarf von mehr als 500 Millionen Euro. Die Häuser stünden überdies mit ihren Leistungen in Konkurrenz zueinander.

Die Kritik des Landesrechnungshofs zieht nicht nur finanzielle Aspekte in Betracht, sondern zitiert auch aus dem Bericht des Wissenschaftsrats, einem Gremium, das bundesweit Studiengänge evaluiert. Im Juli 2019 hatten die Experten den Oldenburger Studiengang begutachtet. Neben Lob für das „beeindruckende Studienangebot“ und die Forschungsschwerpunkte Neurosensorik und Hörforschung, die sie zu den „profilbildenden Merkmalen“ zählen, gab es deutliche Kritik an der klinikübergreifenden Struktur des Modellstudiengangs. Diese sei „nicht zukunftsfähig“, beschied der Wissenschaftsrat.

Insider berichten, dass sich die Kliniken gegenseitig nicht in die Karten gucken ließen, ihre Wirtschaftspläne geheim hielten und die Uni dort nichts zu melden habe. Womöglich mit negativen Auswirkungen: „Die Evaluation des Wissenschaftsrats bescheinigt der Humanmedizin erhebliche Forschungsschwächen aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit entsprechender Infrastruktur“, führt auch der Landesrechnungshof in seiner Expertise an.

Die Uni Oldenburg widerspricht. „Die fachliche Begutachtung der Universitätsmedizin steht dem Landesrechnungshof nicht zu“, teilt die Pressestelle mit. Die Evaluation des Wissenschaftsrats sei hervorragend. Und weiter: „Die Universitätsmedizin ist Garant für die Gesundheitsversorgung im Nordwesten, wo in den nächsten zehn Jahren ein Versorgungsmangel von rund zweieinhalbtausend Ärztinnen und Ärzten entstehen wird.“

Ob die „Landarztkarte“ allerdings immer noch sticht, ist fraglich. Die Landesregierung schnürte ein „Erste-Hilfe-Paket“, nachdem die Kliniken näher zusammenrückten und die Uni ihr kritisiertes Konzept nachbesserte. Immerhin 80 Millionen Euro machte Finanzminister Hilbers für den Neubau locker. Die Uni feiert das als Durchbruch, auch wenn die Vollfinanzierung der neuen Gebäude verschoben wurde, und die Studierenden sind erleichtert.

Doch wollen sie wirklich Landarzt werden? Johannes Stalter kommt aus München und hat sich für Oldenburg entschieden, weil das Studium sehr praxisnah sei. Die Uni hatte das Interview im medizinischen Trainingszentrum organisiert, die Pressesprecherin ist dabei. „Schon nach wenigen Wochen haben wir Patientenkontakt. Woanders dauert das zwei Jahre“, sagt der 26-Jährige, der gerade seine Doktorarbeit schreibt. Allerdings will er Neurologe werden und nicht Landarzt.

Zwei Studentinnen, zufällig auf dem Campus getroffen, wollen die Fachrichtungen Augenheilkunde und Chirurgie einschlagen – eher nichts für eine typische Landarztpraxis. Drei von 80 sind nicht repräsentativ, zugegeben ein Zufallsbefund. Erstaunlich ist allerdings, dass die Kliniken, auch die Lehrkrankenhäuser, die am Modellstudiengang mit Zielrichtung Landarzt mitwirken, den Oldenburger Medizinnachwuchs abwerben – oder es zumindest versuchen.

Wie viele der derzeit 47 Absolventinnen und Absolventen aufs Land gehen wollen, steht noch nicht fest. Der Landkreis Leer hat aber schon mal vorgesorgt und vergibt Stipendien unter der Bedingung, dass die Absolventen der EMS sich in Ostfriesland niederlassen. Für mindestens drei Jahre.