Das Unheimliche zwischen den Zeilen

Die kanadische Autorin Leanne Shapton erzählt von ungebetenem Besuch, spielt dabei mit der Fiktionalität
des Horrorgenres und schreibt so in ihrem „Gästebuch“ moderne poetische Geistergeschichten

Wo ist Walter, der imaginäre Freund, der die Flugbahn des Balls voraussagen kann? Foto: Juergen Hasenkopf/imago

Von Frank Schäfer

Billy Byron ist ein überaus talentierter Tennisspieler. Er scheint die Flugbahn des Balls voraussagen zu können. Von Kindheit an hat er einen imaginären Freund, Walter, der ihm sagt, wo die Bälle hinfliegen. Byron ist bald sehr erfolgreich, aber ein Sieg bringt ihn oft an die Grenze seiner körperlichen und seelischen Belastbarkeit, erst dann nämlich tritt Walter in Erscheinung. Er quält ihn. Nach diversen Zusammenbrüchen und Verletzungen während des Spiels wird Byron zum eigenen Schutz vom Tennisverband gesperrt. Weil Walter ihn jetzt im Stich lässt und gar nicht mehr erscheint, erleidet Byron zunächst einen Nervenzusammenbruch und verschwindet schließlich ebenfalls spurlos.

Das „Gästebuch“ der kanadischen Autorin Leanne Shapton sammelt, in der offenen Form, die man mit einer solchen sich vermeintlich zufällig füllenden Kladde verbindet, Geschichten von ungebetenen Gästen – von Geistern, Phantomen, Schimären und anderen Erscheinungen. Und sie lässt stets offen, ob es sich hier um bloße Einbildungen handelt oder um reale Erscheinungen oder ob das nach guter alter romantischer Lesart gar keinen Unterschied macht.

Schon im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, dem ersten Höhepunkt des Schauergenres, haben die Autoren einigen literarischen Aufwand betrieben, um den angeblichen Realitätsgehalt ihrer Story zu beglaubigen. Ein Spiel mit der Fiktionalität ist der Gattung eingeschrieben, das Shapton noch weiter führt, indem sie Fotos, Illustrationen und Zeichnungen in den Mittelpunkt rückt, also Faktizität verbürgendes Bildmaterial. Der eher lapidare, auf atmosphärische, affektsteigernde Ausschmückungen gänzlich verzichtende Begleittext soll oft nur den nötigen erzählerischen Zusammenhalt stiften.

Leanne Shapton: „Gästebuch". Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Suhrkamp, Berlin 2020, 320 Seiten, 24 Euro

Den Kasus Billy Byron etwa baut sie auf wie eine Fotorecherche. Diverse Bilder zeigen seine Familie, seinen Trainer, seine Abstürze. Zeichnungen aus Byrons Kinder- und Teenagerzeit dokumentieren Walters Existenz. Leanne Shapton betreibt einigen artistischen Aufwand, diesen Fall glaubhaft zu rekonstruierten. Man darf nur nicht mogeln und ins Netz schauen, es gibt keinen Byron, der 1978 das Viertelfinale in Wimbledon erreicht hat.

Shaptons Sprache bleibt auch dann noch sachlich wie ein Gerichtsprotokoll, wenn sie sich nur auf Worte stützen kann. In einer Intellektuellenrunde erzählt eine Regisseurin von einem Handy-Video. Sie hat es aufgenommen in der Wohnung eines befreundeten Paares, wo sie deren zwei Hunde beaufsichtigen soll. Sie filmt die Hunde, und dahinter huscht eine dunkle Gestalt den Gang entlang. Sie ruft sofort die Polizei, aber es ist niemand da außer ihr und den Hunden. „Die Regisseurin nahm ihr Smartphone aus der Handtasche, auf dem sie eine Kopie des Videos hatte. Sie hielt dem Produzenten, einer der Schauspielerinnen und mir das Display hin. Es war genauso, wie sie gesagt hatte. Ich zuckte zusammen, als ich die Gestalt sah. Die andere Tischseite lachte. Dann drehte die Regisseurin das Telefon um, und die andere Schauspielerin riss die Augen auf und stöhnte. Schließlich zeigte die Regisseurin das Video auch der Drehbuchautorin und der Journalistin. Die Drehbuchautorin schlug sich die Hand vor den Mund.“

Wichtig ist hier nicht nur, was sie beschreibt, sondern vor allem das, was sie weglässt. Shapton inszeniert allerlei Lücken in ihren Geschichten, so schafft sie Imaginationsraum für den Leser. Dem ersten Grundgesetz des Horrors folgend, wonach das Unheimliche, das sich die Fantasie selbst auspinseln darf, immer noch den größten Effekt macht.

Grundgesetz des Horrors: Das Unheimliche, das sich die Fantasie selbst auspinseln darf, macht immer noch den größten Effekt

In dem Kapitel „Ein Spukhaus“ zählt sie nur noch das narrative Spielmaterial auf. Erklärende Kommentare zu Bildtafeln, die selbst allerdings verlorengegangen zu sein scheinen, sollen genügen, um die Imaginationsmaschine in Gang zu setzen. „X. Die Wand des Flurs, wo die Stimmen gehört wurden... XV. Der runde Tisch im Salon, wo das Buch auftauchte … XVIII. Oberes Südostzimmer, in dem die Vorhänge zugezogen wurden“ usw.

Hier kann man im Selbstversuch verfolgen, wie zwischen den Zeilen eine unheimliche Aura aufsteigt. Aber die Story rundet sich nicht, weil die Leerstellen zu groß sind, das Enigmatische ein Übergewicht bekommt. Auch das scheint Absicht zu sein. Shapton schreibt sich kalkuliert an die Grenzen eines solchen elliptischen Erzählens heran. Bisweilen auch darüber hinaus. Ihre ungemein suggestive, formal ebenso vielgestaltige wie avancierte Meditation über das Genre Spukgeschichte ist zugleich eine über ihre Erzählweisen und narrativen Strategien. Leanne Shapton bietet Horror für Eggheads.