Ein Kaffeekränzchen für die Vielfalt

Der Tag der deutschen Einheit wird meist als Angelegenheit von West- und Ostdeutschen begangen. Menschen mit Fluchtgeschichte mischen jetzt einfach mal mit: Jenseits von öden Festakten laden sie zu einer Tafel der Demokratie, die diesen Namen auch verdient hat

„Tafel der Demokratie“ – Einladung von Bürger*innen mit Fluchtgeschichte zu Kaffee und Kuchenam Tag der Einheit, deutschlandweit, in Bremen am Neptunsbrunen, Domsheide, 15–17 Uhr

Anmeldung erbeten an saher@bzvahr.de, Infos: www.bzvahr.de

Von Benno Schirrmeister

Den Tag der deutschen Einheit feiern? Aber klar doch, sagt Saher Khanaqa-Kükelhahn. Und auf die Frage, warum, schaut sie fast ein wenig entgeistert und sagt: „Weil wir die Wiedervereinigung ganz toll finden.“

Khanaqa-Kükelhahn ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Schwachhausen, seit Jahrzehnten schon. Aber im Bürgerzentrum Neue Vahr ist sie auch Herz, Kopf und Seele des Projekts „Face to Face“, das auf Verwaltungsdeutsch als ein „Beschäftigungsprogramm für Migrant*innen und Geflüchtete ab 18 Jahren“ firmiert, und korrekter als gelebte Utopie zu beschreiben wäre: Sprachkurse, Upcyclingwerkstatt, Überlebenshilfe, Traumaarbeit – das steckt da alles drin. Aber dazu ein andermal.

Khanaqa-Kükelhahns „Wir“ jedenfalls steht für Bremer Bürger*innen, die, wie sie selbst, eine Fluchtgeschichte haben. Und die am Samstag auf dem Domshof, am Neptunsbrunnen, zu dem Anlass einladen, dass hier in Deutschland vor 30 Jahren eine ein Jahr zuvor kollabierte Diktatur beseitigt worden war, und ihre 20 Millionen Bürger*innen sich in einer Demokratie wiederfanden. Unperfekt und manchmal kacke, wie jeder Rechststaat, aber eben halt doch: Rechtsstaat.

Das sei doch wohl ein Grund, sich zu freuen, sagt Khanaqa-Kükelhahn, „das war, wie ich das erlebt habe, damals“. Vielleicht hatten ihre Erlebnisse mit dem Saddam-Regime sie dafür besonders sensibilisiert. Oder aber später die Schule in Deutschland: „Ich war mit dem Geschichtskurs im Osten gewesen“, erzählt sie, „und ich fand das absurd, dass ich aus dem Irak gerettet war und in Freiheit – und hier die Leute nicht.“

Bloß wie jetzt feiern? Mit einer Mahnwache gegen grassierenden Nationalismus, wachsenden Fremdenhass und ewigen Rassismus? Tut auch not, klar, und die prima „Omas gegen Rechts“ nehmen sich da auch wieder in die Pflicht, dafür danke. Aber als Fêtenformat geht das noch nicht mal im protestantischen Norddeutschland durch.

Die „Tafel der Demokratie“ hingegen, zu der alle eingeladen sind, begeht 30 Jahre Wiedervereinigung gemäß lupenreinem deutschem Geburtstags­brauchtum bei Kaffee und Kuchen. Gebacken haben Geflüchtete, und es geht darum, ins Gespräch zu kommen: „Die Botschaft ist: Wir wollen mit euch reden“, sagt Saher Khanaqa-Kükelhahn.

Es ist gut, das zu betonen: Denn „Tafel der Demokratie“ war Anfang des Jahrhunderts ein Begriff, den das Bundespräsidialamt unter Horst „dem Beleidigten“ Köhler gesetzt hatte: Das Staatsoberhaupt lud ausgewählte 1.500 verdienstvolle deutsche Staatsbürger*innen zu Sülze und Rheinwein ein. Es wurde Akkordeon gespielt. Einige Zeitungen hatten Plätze für ihre Abonnent*innen ergattert und sie verlost. Das hohe Paar nahm inmitten seines Volkes bei „Kaiserwetter“ Platz, wie die Thüringer Landeszeitung festhielt. 2010 war damit Schluss.

„Es ist für viele nicht selbstverständlich, dass wir mitmischen“

Saher Khanaqa-Kükelhahn

In Bremen, zehn Jahre später, ist alles anders: Wer hier zum Kaffeetrinken vorbeikommen will, kommt und nimmt Platz an einem 30 Meter langen Tisch, „komplett mit weißer Decke, das ist wichtig“: Es soll festlich sein. Sinnvoll ist, sich anzumelden, aber ein paar Plätze sollen auch spontan vergeben werden. Selbstverständlich gelten die Abstandsregeln, „wir haben ein richtiges Infektionsschutz-Konzept“, sagt Khanaqa-Kükelhahn.

Nicht zu wissen, wer kommt, scheint aber trotzdem das größere Risiko. Begegnungen können sich immer unangenehm entwickeln. Auf mögliche Stresssituationen hat sie die Gastgeber*innen vorbereitet: Sie hat mit ihnen Moderationstrainings gemacht. Per Videokonferenz, online und bundesweit. Während es irgendwo sicher einen zentrallangweiligen offiziellen Festakt gibt, ist nämlich diese Bremer Initiative die große deutschlandweite Feier, selbst unter eingeschränkten Bedingungen. Denn ja, die Pandemie hat auch dieses Projekt eingedampft. Ursprünglich hatten sich 29 Städte quer durch die Republik der Initiative aus Bremen angeschlossen, unter der Schirmherrschaft von Thomas Oppermann, Fraktionsvize der Bundestags-SPD. „Der war sofort dabei, als ich ihm vergangenes Jahr von der Idee erzählt hatte“, sagt Khanaqa-Kükelhahn. Koordiniert wird die Veranstaltung aber durch soziokulturelle Zentren – und eben organisiert und bestritten von Geflüchteten: 30 Jahre, 30 Städte, 30 Kaffeekränzchen in ganz Deutschland.

„Die hatten alle schon mit den Vorarbeiten angefangen“, sagt die Psychotherapeutin. Dann kam Corona und hat den Zahlenzauber zunichte gemacht. Aber etliche sind dabei geblieben: Braunschweig, Halle, Frankfurt am Main, Bad Belzig, Bonn, Luckau – „und Düsseldorf überlegt noch“.

Es sei für viele „nicht selbstverständlich, dass wir mitmischen“, sie selbst werde auch immer mal wieder komisch angeguckt, wenn sie sich für demokratische Strukturen stark mache – wo sie doch noch nicht mal Wahlrecht habe. Aber „die Demokratie liegt uns echt am Herzen“, sagt Saher Khanaqa-Kükelhahn, das sei ja der Grund gewesen, hierherzukommen: dass hier für die meisten „das Land ist, in dem wir uns sicher fühlen können“. Mit der „Tafel der Demokratie“ zum Gespräch über dessen Zustand und dessen Staatsform einzuladen, ist für sich genommen ein Statement. „Geflüchtete möchten in Deutschland die Verantwortung für die hiesige Gesellschaft mittragen“, heißt es in der Einladung. „Sie wollen sich für die demokratischen Werte einsetzen und diese ihren Kindern vermitteln.“ Das klingt fast pathetisch. Aber ein bisschen Pathos ist dem Anlass ja auch angemessen.