heute in bremen
: „Auf der Flucht wird nichts weggeworfen“

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Saher Khanaqa-Kükelhahn 52, ist Psychotherapeutin und leitet das Integrationsprojekt „Face to Face“ im Bürgerzentrum Neue Vahr.

Interview Marie Gogoll

taz: Frau Khanaqa-Kükelhahn, wann haben Sie das letzte Mal ein Kleidungsstück genäht?

Saher Khanaqa-Kükelhahn: An Fasching. Ich nähe alle Kostüme für meine Kinder. Ich mache die schrägsten Kostüme von Wesen, die überhaupt nicht existieren. Ich nähe sehr gerne.

Und was hat Nähen mit Integration zu tun?

Die Idee für das Upcycling, also aus alten Sachen neue zu machen, ist im Sprachkurs entstanden. Die meisten Geflüchteten machen das nämlich ohnehin so. Auf der Flucht wird nichts weggeworfen. Ich arbeite im Integrationsprojekt immer mit den Stärken und Ressourcen der Teilnehmenden.

Kennen Sie das von Ihrer Tätigkeit als Psychotherapeutin?

Ja. Ich habe viele Menschen mit Traumata therapiert. Projekte wie der Upcycling-Workshop können diesen Menschen sehr gut tun.

Wieso?

Es geht dabei nicht um das Nähen. Es geht darum, die eigenen Kompetenzen zu spüren, selbst etwas zu schaffen. Viele Geflüchtete können auf Kompetenzen, die sie in ihrer Heimat hatten, hier nicht mehr zugreifen. Das liegt oft allein schon an der Sprache. Wenn sie ohne Aufgabe alleine zu Hause rumsitzen, verstärkt das die Traumata auch noch. Häufig sind Sprachkurse das einzige, was die Gesellschaft anbietet. Das ist aber nicht für alle etwas.

Warum nicht?

Viele sind die Struktur solcher Kurse einfach nicht gewöhnt. Sie sind oft gar nicht zur Schule gegangen. Deswegen macht das Format der Sprachkurse bei ihnen einfach keinen Sinn. Beim Nähkurs hingegen sprechen sie mit den Schneider*innen, es werden Bücher und Gedichte auf Deutsch vorgelesen. Nach einem Jahr im Nähkurs kann man dann auch mit Schritten wie der Alphabetisierung beginnen.

Also geht es bei den Kursen um Spracherwerb?

Ausstellung von Designerkleidung der Upcycling-Werkstatt des Integrationsprojekts „Face to Face“: 16 Uhr, Untere Rathaushalle

Auch, aber in erster Linie geht es den Frauen darum, der Gesellschaft, die sie aufgenommen hat, etwas zurückzugeben. Damit zeigen sie, was sie können. Sie holen sich ihr Selbstbewusstsein zurück und erleben, dass sie Teil der Gesellschaft sind.

Sie sprechen von Frauen, gibt es keine männlichen Teilnehmer?

Die Kurse des Projekts stehen eigentlich allen offen. Zum Nähkurs sind jedoch nur Frauen gekommen. Weil wir gemerkt haben, dass das ein schöner Schutzraum ist, ist es jetzt ein Frauenprojekt.

Warum verkaufen Sie die Kleidung nicht?

Die Kosten für die Mitarbeitenden des Projekts werden durch den Europäischen Sozialfonds finanziert. Dafür brauchen wir das Geld also nicht. Uns geht es um etwas anderes, um das Miteinander. Wir verschenken die Stücke an Menschen, die sich sonst keine Designerklamotten leisten können.