Die da oben und so weiter

In Hannover gerät Wolfram Lotz' Langgedicht „Die Politiker“ zu einem wilden Theaterabend, an dem irgendwann auch gar nicht mehr so richtig wichtig ist, ob noch jemand mitdenkt

Mit sich und mit der bürgerlichen Demokratie nichts anzufangen wissen: Bernhard Conrad im Schauspielhaus Hannover Foto: Kerstin Schomburg/Staatstheater Hannover

Von Jens Fischer

Warum nicht einfach mal Witze erzählen? Geht ein Cowboy zum Friseur – kommt er wieder raus: Pony weg! Spaßanimation dieser Art bietet das Darstellungskünstlerpaar am Schauspiel Hannover schon lange bevor der erste Satz von Wolfram Lotz' Langgedicht „Die Politiker“ zu hören ist. Die beiden Mimen lümmeln auf der Bühne, schlendern nach einigen ihrer Flachpointen auch immer wieder hinfort. Treten aber sogleich erneut auf und zelebrieren dieselben Scherze nochmal. So vermittelt sich schon als Prolog eine kleine formale Analyse des aufzuführenden Textes als ein um sich selbst drehendes, kalauerwilliges Konstrukt. Gesucht wird ein Dreh, die Dramaturgie der rotierenden Sprachmaschinerie frei- und die verhandelten Fragen bloßzulegen, oder zumindest das Kreiseln als unterhaltsame Bühnenshow darzubieten.

Beides versuchte bereits „Die Politiker“-Uraufführung mit einem rasenden Schauspielerinnensolo als Appendix der „Lear“-Inszenierung Sebastian Hartmanns am Deutschen Theater in Berlin. Marie Bues nutzt in Hannover die herausfordernde Offenheit der Vorlage nun hingegen für ein unbekümmert flottes Duett. Statt der Kunstübung feiert sie die schwebende Musikalität des Textes in einem Küchenbühnenbild. Wo das Stammtischthema Politiker sozusagen auf den Esstisch gebracht wird – und zwar von Bernhard Conrad als einer Art Jedermann, ein bisschen prolliger Wutbürger ist er, auch rumorend verklemmter Kleinbürger und eitel besserwissender Schlaubürger. So redet und redet er, als müsse er nur lange genug lauthals drauflosgrübeln, um auf eine geahnte Wahrheit zu kommen.

Mit endlos variablem Artikulationsspektrum modelliert Conrad den dahinbrausenden Fluss der Worte zu einer mal wütenden, mal ratlos empörten, dann predigenden, bramarbasierenden oder gerappten Suada-Melodie, bringt so locker gewirkte Motive der Vorlage zum Tänzeln – unterstützt von immer etwas zu großen Entertainer-Gesten: virtuos! Musikerin Bärbel Schwarz begleitet ihn auf der Gitarre, betont einige Passagen mit üppigen Halleffekten, spielt mit Echos und Loops, mischt sich als mütterliche Stimme hinter die Narration, nimmt auch mal den Sprachrhythmus am Schlagzeug auf und rockt dazu mit verzerrter Artikulation. Wenn Lotz eine im Schreibzimmer auftauchende Katze in sein Poem hineinschreibt, türmt Schwarz tierisches Fauchen zu einem Klang­orkan auf und kommentiert später die Stichworte „Adolf Hitler“ mit volksliedhaftem Jodeln. Conrad macht sich derweil nackig, nachdem er einen Tisch umgeschmissen und Eier in die Pfanne gehauen hat.

Es geht gar nicht so sehr um Politiker, sondern vielmehr um widersprüchliche Zuschreibungen und Erwartungen an diese Leute

Nur wohin geht die szenische Reise? Als innerer Monolog kommt das Werk aus den Tiefen und Untiefen nächtlicher Arbeitssitzungen des Autors, als „Sprechtext“ hat er es charakterisiert. „Die Politiker“ ist als Re­frain viele Hundert Male auf locker bedruckten 95 Seiten zu lesen. Aber um eine dramatische Auseinandersetzung mit dem zwischen Sachzwängen, bürokratischen Entschleunigungen, widersprüchlichen Interessen und eigenen Überzeugungen vermittelnden Berufsstand handelt es sich nicht.

Vielmehr geht es um Zuschreibungen sowie Erwartungen an Politiker, aber auch an sich selbst, also den Ich-Erzähler-Autor. Dabei fungieren „Politiker“ als Projektionsfläche der Sehnsucht, nicht nur ein kleines Rad im großen Betrieb zu sein, sondern verantwortungsvoller Antreiber und Bestimmer. Das klingt dann einerseits ehrfurchtsvoll poetisch: „Die Politiker sind der Wind in den Bäumen, / die wieder stehen auf den Hügeln vor Verdun. / Die Politiker sind der Nebel, / der am Morgen einfällt vor dem Gelände / von Buchenwald. / Die Politiker sind das Gras, das wächst / auf den Wiesen der Leipziger Völkerschlacht.“ Andererseits wird immer wieder versucht, den Abstand von denen da oben zu dem Ich da unten zu vermessen – eine auch mal mit Hass, Hohn oder Neid infizierte Sichtweise: „Die Politiker fahren mit Fahrzeugen, / sie fliegen mit Flugzeugen, / sie straucheln in Sträucher / sie knacken beim Kacken / und schreien im Schrein! / Who cares! / Habt ihr sie etwa nicht gewählt? / Wer dann? Die Eichhörnchen im Park? / Zum Teufel mit diesen Viechern!“

Zumeist aber mäandert der Text will assoziierend durch Wortjonglagen, herrlichen Unsinn und ständige Abschweifungen: „Die Politiker schlafen auf dem Bauch und da / schlafe ich auch / Rauch! Rauch! Rauch! / Und wir, wir – / Gartenschlauch / Die Politiker haben bisweilen / Gartenschlauch / sie wässern damit die Zucchini / die Stachelbeeren und den Lauch! / Lauch reimt sich auf Wut / aber Wut reimt sich auch auf Hut / Die Politiker haben einen auf!“ Fragmentarissimo!

Trommelt sich rein in die Narration: Bärbel Schwarz an Schlagzeug und Mikrofon Foto: Kerstin Schomburg/Staatstheater Hannover

Dass die Aufführung aber inhaltlich auch wirklich etwas will, wird lange nicht klar. Irgendwann allerdings kippt Bärbel Schwarz pfundweise Sand in die Bühnenküche, damit ihr Kollege etwas daraus baut, als Schutz gegen all das, was ihn ängstigt. Eine Lagerfeuerillusionslampe wird dazu spendiert und eine Palme aufgestellt. Abschottung, das wäre die eine Möglichkeit, um aus diesem Gedicht heraus- und zur Ruhe zu kommen – die „Politiker“ müsste man sich dann als zu ignorierende Regenten der Welt da draußen vorstellen. Aber so recht etwas anfangen kann Bernhard Conrad mit den Requisiten nicht und wählt daher eine radikale Variante.

In der ihm zusehends zu Kopfe steigende Verwirrung über seinen Platz im Leben schleppt er schwarze Kanister auf die Bühne, als zum Finale vom Rückzug ins Private die Lotz-Rede geht. „Es ist an der Zeit“, sagt Conrad und zündelt mit dem Feuerzeug herum. Kein Krawumm, aber ein Sturm tobt aus den Lautsprechern. Vielleicht zu deuten als Signal zur Selbstermächtigung einer im Ohnmachtsbewusstsein rumorenden Haltung. Als Aufruf, gesellschaftliche Verantwortung nicht nur an Politiker zu delegieren, sondern selbst zu übernehmen. Ob das so gemeint ist, ob überhaupt jemand den himmelhoch abstrahierenden, alltagsbanal durchkreuzten, ad absurdum verspielten Gedanken des Autors konsequent folgen kann, ist letztlich aber gar nicht so wichtig. Denn der Malstrom des alleingelassenen Alltagsbewusstseins ist schon ein entzückend kauziges Fest an- und aufgerissener Überlegungen, der Klangstrom der Inszenierung macht daraus ein formidables Konzerterlebnis.

„Die Politiker“: Wieder am Do., 8. 10., und Mi., 28. 10., 19.30 Uhr, Schauspielhaus Hannover