Hinaus aus der Blase der Uneigentlichkeit

Yael Ronen und Ensemblemitglieder des Gorki-Theaters zeigen mit „Death Positive. States of Emergency“ eine tragikomische Nummernrevue, die mehr zu erzählen hat als nur Coronaklischees

Da kann man schon halluzinieren: Szene aus „Death Positive. States of Emergency“ Foto: Ute Langkafel/Maifoto

Von Katharina Granzin

Was kann, was soll das Theater in Zeiten gesetzlich vorgeschriebener Abstandsregeln? Was geht da überhaupt? Am Gorki-Theater geben die Regisseurin Yael Ronen und ein überschaubares Ensemble aus in weiße Seuchenanzüge gekleideten DarstellerInnen – nein, keine Antworten, sondern einen Abend voller Fragen und Fragmente, in denen Komik und Tragik neben- und nacheinander ihren Platz finden.

Der Schauspieler Niels Bormann, der es scheinbar zufällig zuerst auf die Bühne schafft, gibt zum Einstieg den deutschen Ordnungsfanatiker und damit auch eine Art selbsternannten Oberspielleiter. Übermotiviert verliest er Passagen aus der Pandemieverordnung des Senats, den Theaterbetrieb betreffend, und markiert mit rot-weißem Absperrband eine Spielfläche für sich allein, die er im Folgenden mit großem Einsatz gegen alle verteidigt, die ebenfalls darin auftreten wollen. Logisch übrigens, dass im Laufe des Abends immer wieder ein penetranter Alarm ausgelöst wird, wenn eineR der DarstellerInnen an den vorderen Bühnenrand und damit dem Publikum zu nahe tritt.

Seuchenzeiten sind Zeiten der Monologe. Dialoge sind nur aus sicherer Entfernung oder vermummt möglich, und auch dieser Fall wird uns in maximaler Konsequenz vorgeführt. Da ist es aber wirklich besser, ganz auf Dialoge zu verzichten, denn wenn einer seinen Kopf in einen Riesenkokon aus Plastik gewickelt hat („Der kann doch durch die Augen atmen!“), versteht sowieso niemand, was er sagt.

Monologe sind aber nicht nur das gesundheitspolizeiliche Gebot der Stunde, sondern auch ihre ideale Ausdrucksform, findet doch darin die Vereinzelung, in die Corona uns geschickt hat, angemessene szenische Entsprechung. Kleine Meta-Diskussionen der Ensemblemitglieder haben vermittelnde Funktion zwischen den einzelnen Monologen, im Grunde aber ist der Abend eine Art Nummernrevue. Die Einzelauftritte führen zunächst vertraut gewordene Coronastereotype vor: den Streber, der aufgeht im Einhalten der Regeln und andere ständig zurechtweist. Die Einsame, die allein in ihrem Zimmer sitzt und vor lauter Selbstreferenzialität zu halluzinieren beginnt. Die Verschwörungsgläubige, die hinter allem eine versteckte Agenda wittert.

Es sind Klischees, die uns, auch wenn sie hier in pointiertester Ausprägung vor uns treten, nichts Neues erzählen. Wir kennen den Corona-Alltag da draußen, und ihn nun dramatisiert, poetisiert und visuell überhöht – eine bewegte, oft saalfüllende Projektion schwarz-weißer Illustrationen läuft fast die ganze Zeit mit – vorgeführt zu bekommen ist prinzipiell okay, müsste aber auch nicht unbedingt sein.

Die Pandemie duldet kein anderes Leiden neben sich

Fast unmerklich nimmt die Inszenierung dann doch einen anderen Verlauf. Wer Covid-19-Kranke kennt, fragen sich die DarstellerInnen – und heben alle selbst die Hand –, und wer Menschen kenne, die gestorben sind. Auch da heben ein paar die Hand, und einer, Knut Berger, tritt vor und beginnt zu sprechen, vom Krebstod der Eltern, die beide im Laufe eines Jahres verstarben. Es ist ein langer Monolog, gefolgt von einem kürzeren der Schauspielerin Orit Nahmias, die von der komplizierten Beziehung zu ihrem Vater erzählt und den widersprüchlichen Gefühlen, die sein Tod in ihr auslöste.

Diese beiden Erzählungen, so nah dran am Thema und doch so losgelöst vom Coronakomplex, führen auf ganz selbstverständliche Weise hinaus aus einer gefühlten Blase der Uneigentlichkeit in etwas, das viel realer scheint. Es sind Geschichten, wie man sie „früher“ erzählt hat, Geschichten über den Tod vor, nach und neben Corona, über Leiden, das immer existiert hat und die ganze Zeit existiert, über das aber zu Zeiten der Pandemie niemand spricht, weil die Pandemie kein anderes Leid neben sich duldet.

Ja, so etwas kann und soll das Theater. Erst beim Schluss­applaus sieht man übrigens, dass die wunderschöne schwebende Installation im Bühnenhintergrund aus lauter Klopapierrollen besteht.

Nächste Vorstellungen: 9.–11. 10., jeweils 19.30 Uhr