Not auf der Straße

Fachleute beschreiben eine deutliche Verschlechterung der Situation von Obdachlosen. Sie fordern, dass bei der Hilfe grundsätzlich umgesteuert wird

Für einige attraktiver als die Gruppenunterkunft: Zelten im Freien Foto: Bodo Marks/dpa

Von Friederike Gräff

„Ich sehe eine ganz starke Verelendung bei den Obdachlosen“, sagt Stephan Karrenbauer, der als Sozialarbeiter beim Straßenmagazin Hinz&Kunzt tätig ist. Als eine Ursache dafür sieht er die coronabedingt eingeschränkten Tagesangebote für Obdachlose. „Jede Einrichtung hat ihr Stammpublikum, für das sie ein Zuhause ist“, sagt Karrenbauer. Einige sind nun für den Aufenthalt geschlossen und diejenigen, die weiterhin geöffnet haben sollten, lassen oft nur noch kleine Gruppen rein. Das bedeutet, dass die Menschen deutlich mehr Zeit in Parks oder Einkaufszentren verbringen, was ihre Situation weiter verschärft.

Es sei „augenfällig“, schreibt Karrenbauer in einem Kommentar, der eher ein Brandbrief ist, in Hinz&Kunzt: „Immer mehr Menschen auf der Straße flüchten in Alkohol und Drogen, weil sie für sich keine Perspektiven erkennen können.“ Immer häufiger sei die Hilfe von Polizei und SanitäterInnen dann der Notnagel, um die Situation kurzfristig zu entschärfen.

In der Sozialbehörde zeigt man sich des Problems durchaus bewusst. „Es ist natürlich das Ziel, auch gegenwärtig möglichst umfassende Hilfen anzubieten – gegebenenfalls unter anderen organisatorischen Bedingungen“, schreibt Sprecher Martin Helfrich. Für Stephan Karrenbauer genügt das nicht. „Da muss man Ideen haben“, sagt er – sei es, dass man ein Zirkuszelt auf dem Heiligengeistfeld aufbaue oder das leer stehende Kaufhof-Gebäude anmiete.

Dirk Hauer, Fachbereichsleiter Migration und Existenzsicherung bei der Diakonie Hamburg, beobachtet die von Stephan Karrenbauer beschriebene Verelendung schon seit einigen Jahren: „Die Menschen sind psychisch schwer angeschlagen – was kein Wunder ist, je länger sie auf der Straße leben“. Für ihn erfordert die Situation mehr als „Tagesangebote, die nur lindern, aber das Problem nicht beheben“. Es brauche Angebote, die ein Mindestmaß an Ruhe und Privatheit sicherten.

Als Beispiel nennt Hauer die durch Spenden finanzierte Hotelunterbringung von 170 Obdachlosen nach Ausbruch der Coronapandemie. Die, so rechnet er vor, sei mit rund 30 Euro pro Person und Nacht nicht teurer als die Unterbringung im Winternotprogramm, die rund 60 Euro pro Person koste – auch wenn man die Kosten für die Betreuung durch SozialarbeiterInnen, die im Winternotprogramm schon inbegriffen sind, noch dazurechne.

Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Programm „Housing first“ sei bislang bloße Theorie

Auch Karrenbauer beschreibt das Hotelprojekt als eindrückliche Erfahrung dafür, „wie Menschen aufblühen, wenn sie Raum für sich haben“. Anders als bei den Großunterkünften wie in der Kollaustraße, wo knapp 300 Obdachlose im Winternotprogramm untergebracht wurden, habe es keinerlei Konflikte mit AnwohnerInnen gegeben.

Warum also zeigt sich die Sozialbehörde zögerlich, den Fokus von den Gruppenangeboten hin zu Einzelangeboten zu verschieben? Denn auch wenn der Sprecher der Sozialbehörde schreibt, dass es „in Einzelfällen, in denen das erforderlich ist, zu Hotelunterbringungen“ komme – die Regel ist es nicht. Und das im Koalitionsvertrag vereinbarte Programm „Housing first“, das die bedingungslose Vermittlung von Wohnungen an Obdachlose vorsieht, ist bislang nach Auskunft von Hauer und Karrenbauer bloße Theorie.

Stephan Karrenbauer vermutet, dass man in der Sozialbehörde einen Anziehungseffekt für Obdachlose aus anderen Bundes- und EU-Ländern fürchtet und deshalb bei dem alten Fokus bleibt. Zu Unrecht, so glaubt er. „Mittlerweile haben auch in den Herkunftsländern viele gemerkt, dass einige hier scheitern.“ Und vor allem: „Wenn man den Menschen eine Unterkunft bietet, spart man die Folgekosten, die Obdachlosigkeit sonst hat.“