Kammerspiele im Risikogebiet

„Quartett“ von Luca Francesconi, „Pierrot Lunaire“ von Arnold Schönberg: In Berlin haben auch die Staatsoper und die Komische Oper die neue Spielzeit eröffnet – mit Maskenpflicht in halb leeren Sälen

Die Erde ist eine im Untergang begriffene Kugel: Thomas Oliemans und Mojca Erdmann in der Staatsoper Foto: Monika Ritterhaus

Von Niklaus Hablützel

Halb versunken im Bühnenboden der Staatsoper ist die Ruine des Planeten Erde zu sehen. Ein Bunker mit schweren Einschlagslöchern im brüchigen Beton. Heiner Müllers Theaterstück „Quartett“ aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts spielt nach dem dritten Weltkrieg, so wollte es der vor nunmehr 25 Jahren verstorbene Autor.

Zugleich sind wir aber auch im Frankreich vor der Revolution, weil es um die Dramatisierung des Briefromans „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos aus dem Jahr 1782 geht. Sobald die Musik beginnt, die zunächst nur ein leises, hochfrequentes Rauschen aus Lautsprechern ist, dreht sich deshalb die Halbkugel der Erde zur Seite und zeigt ihre verwüstete Schale von innen. Mojca Erdmann steht im Nachthemd am Rand eines leeren Salons einer verlorenen Herrschaft. Zusammengerollt schlafend zwischen umgestürzten Stühlen ist weiter hinten Thomas Oliemans zu erkennen.

Ein Sopran und ein Bariton also. Mit nur zwei Personen hat Müller die komplizierten Intrigen des Romans verdichtet. Eine Frau und ein Mann spielen sich und zugleich die Opfer ihrer Wollust. Das Geschlecht zu tauschen fällt ihnen leicht, weil es immer nur um das eine geht: das Eindringen irgendeines Penis in die Öffnungen irgendeines weiblichen Körpers. Um es mal so zu sagen. Neu ist daran selbstverständlich gar nichts, der moralfreie Skandal des 18. Jahrhunderts ist gut abgehangen, mehrfach verfilmt und in Müllers Version auch auf zahllosen Bühnen zu sehen.

Barbara Wysocka, die Regisseurin, versucht den Monstern Gesichter und Gestalt zu geben. Das führt nicht weit, weil beide nichts davon haben. Tapfer muss sich Oliemans die Hosen ablegen und sich Brüste umschnallen. Zudem sollen eine stumme Zeugin und eine Tänzerin die Statik von Müllers sprachlichen Hammerschlägen gegen die Sitten der herrschenden Klassen zum Fließen bringen. Dafür muss die Tänzerin auch einmal umständlich sämtliche Kleider ablegen, um sie dann ebenso langwierig wieder anzuziehen. Wir hätten es auch ohne diese vergeblichen Mühen verstanden.

Weniger gut zu verstehen ist, was Luca Francesconi bewogen hat, diesen Text des letzten Jahrhunderts in neue Musik zu übersetzen. Ein aktueller Anlass ist nicht zu erkennen. Die gegenwärtige Diskussion der menschlichen Sexualität, ihrer Vielfalt und Bedeutung für die eigene Person geht weit über alles hinaus, was sich Heiner Müller vorstellen konnte. Der moderne Gedanke, anatomisches und soziales Geschlecht begrifflich zu unterscheiden, war ihm fremd. An de Laclos begeisterte ihn allein die Vorstellung des Obszönen, die am Vorabend der Französischen Revolution offen ausgesprochen werden konnte. Die Zeit ging darüber hinweg. Wir reden heute sogar ständig über Sex, aber ohne Scham und in moralischen Kategorien von Rechten und Verboten.

Wie könnte eine moderne Musik dafür klingen? In der Unterhaltungsindustrie ist einiges davon zu hören, bei Francesconi nicht. Ein Kammerorchester mit sehr viel Schlagwerk, wenigen Bläsern, einer Violine und zwei Celli begleitet die beiden Singstimmen, die Müllers Text Wort für Wort in mal schnellen, mal lang gezogenen Fragmenten von Melodien nachsingen. Es klappert, rauscht und klimpert alles brav in vagen Harmonien vor sich hin. Ohne Höhepunkte, nur zusammengehalten von elektronischen Klangflächen, die überwiegend aus der Verstärkung und Verzerrung des Klangs der Stimmen und Orchesterinstrumente entstehen. Die Live-Elektronik stammt aus dem legendären, einst von Pierre Boulez gegründeten „Ircam“-Studio für Elektoakustik und dürfte das Feinste sein, was es heute davon gibt. Genauso klingt sie auch: sehr geglättet und kühl arrangiert.

Daniel Barenboim dirigiert umsichtig und engagiert die wenigen dafür erforderlichen Instrumente, Mojca Erdman und Thomas Oliemans singen vollendet mit der ganzen Reife ihrer Gesangskunst. Nach 90 Minuten ist das Kammerspiel vorbei, die Betonkugel dreht sich zum letzten Mal. Der Applaus klingt angestrengt, wenig glücklich verbeugen sich alle mit Atemmaske im Gesicht vor den wenigen Frauen und Männern in Robe und Anzug, die verstreut in dem fast leeren Saal sitzen. In Bezirk Mitte, dem geografischen Ort der Staatsoper, lag am Samstag der Premiere der statistische Inzidenzwert für Corona-Infektionen über der roten Marke von 50. Schutzmaske ist preußische Bürgerpflicht, aber es war trotzdem so, als sei die Erde tatsächlich gerade untergegangen und nur noch die Erinnerung an ferne Jahrhunderte mit ihren bösen Geschichten übrig geblieben.

Nein, ist sie nicht. An der Komischen Oper war am Mittwoch davor nicht nur der Saal, sondern auch die Bühne fast leer. Aber das Haus war voll. Es vibrierte geradezu vor Lust am Theater, am Spiel mit Worten und Tönen, an Gedanken und Träumen. Das Wunder hat Dagmar Manzel vollbracht, die inzwischen international gewordene Berlinerin aus dem Osten der Stadt.

An de Laclos begeisterte Müller allein die Vorstellung des Obszönen, doch die Zeit ging darüber hinweg

Nicht alleine, Barrie Kosky, der Hausherr, hat ihr den dramatischen Rahmen gebaut mit einer Idee, die lange vor Corona entstand. Er wollte „Not I“ und „Rockaby“, zwei Monologe für eine Frauenstimme von Samuel Beckett aus den Jahren 1972 und 1981, verbinden mit einer szenischen Aufführung des „Pierrot Lunaire“ von Arnold Schönberg, 1912 uraufgeführt. Über 60 Jahre liegen zwischen den Entstehungszeiten; was die Werke allein verbindet, ist der radikale Bruch jeder in ihrer Zeit vorherrschenden Konvention des Theaters.

Das Konzept geht auf, die Wegmarken der Moderne weisen immer noch weit voraus. Am Anfang ist nur ein rot geschminkter Mund in einem winzigen Loch des schwarzen Bühnenvorhangs zu sehen. Manzell spricht Becketts Satzfetzen atemlos, zornig und bitter. Das ganze Leben einer Frau entfaltet sich allein durch den rhythmischen Fluss der Worte, ein gewaltiges Drama im kleinstmöglichen Format. Danach sitzt sie nur spärlich beleuchtet auf einem Schaukelstuhl. Es könnte dieselbe Frau sein oder auch nicht. Das Leben geht zu Ende. „Zeit, dass sie aufhört“, sagt sie, hört auf zu schaukeln, dann aber kommt doch noch ein „Mehr“ aus ihren Lippen.

Schönberg hat das letzte Wort. Manzel richtet im blauen Nachtgewand das Bett. Pierrot Lunaire träumt komisch und traurig aus einer sehr alten Zeit, aber schon wieder so modern, dass man ungläubig glücklich davorsitzt.

Was war mit Corona? Geht vorbei.