30 Jahre Einheit auf dem Teller: Wir essen woanders

Was ist exotischer: Würzfleisch oder Milchschnitte? Es kommt auch auf die Herkunft an. taz-Autor*innen erinnern sich an kulinarische Wendeerlebnisse.

Drei Kinder sitzen auf einer Bank, essen Milchschnitte und kaspern rum.

Statt Vanillesofteis plötzlich Milchschnitte und Bum Bum Foto: Imago/Imagebroker/Wothe

Als Wochenendbrandenburger habe ich die freie Auswahl: Soljanka? Oder Würzfleisch? In jedem, wirklich jedem Gastronomiebetrieb auf ostdeutschem Boden werden diese beiden Vorspeisen angeboten, nicht nur in Krokettenbratereien, auch in edlen Restaurants. Es muss irgendeinen geheimen Sonderparagrafen im Einigungsvertrag geben, der das Vorhalten von Soljanka und Würzfleisch zwischen Ostsee und Erzgebirge für ewig gesetzlich festlegt.

Das Würzfleisch ähnelt dem mir aus dem Westen bekannten Ragout fin und besteht aus unidentifizierbaren Fleischteilchen in einer namensgetreu stets gut gewürzten, schmierig-grauen Masse. Aber statt in Schnickschnackköniginpastetchen aus Blätterteig wird Würzfleisch in Keramikförmchen serviert, damit man sich ganz auf die Fleischpampe konzentrieren kann.

In der Soljanka variieren die Zutaten, es gibt sogar Gemüse, aber irgendwelche Wurststückchen schwimmen auch in dieser Suppe immer herum.

Beide Pflichtgerichte der ostdeutschen Gasthausküche sind also nicht nur extrem lecker, sondern auch extrem nachhaltig. Denn so werden Fleischreste nicht einfach weggeworfen. Zum Glück! Lukas Wallraff

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Habe ich ihn in der DDR vermisst? Natürlich nicht. Denn wie kann man etwas entbehren, was man nicht kennt? Im Westfernsehen lief Eduscho-Werbung, aber nichts über marinierte Heringe. An meinen ersten Matjes erinnere ich mich auch gar nicht mehr, trotzdem leitete er eine neue Zeit ein.

Fisch gab es in der DDR vor allem in Dosen aus dem VEB (Volkseigenen Betrieb) Fischkombinat Sassnitz. Die Sorte „Scomber Mix“ hatte ich stets parat, Fischstückchen, angeblich in Tomatensoße und mit Erbsen und Möhren gestreckt. Nicht, dass sie besonders gut schmeckten, doch die Konserven lagen in fast jedem Konsum und der Inhalt ließ sich gut löffeln. Außer in Dosen gab es Hering gebraten im Glas, als Bismarckhering, der nicht so heißen durfte, und er schwamm in Fässern voller Salzlake. Tagelang musste man die Dinger wässern. Dass es Hering auch filetiert, zart, mariniert und in handlichen Portionen gab, schien mir 1990 wie ein Wunder.

Es gab in der DDR keinen Brokkoli, keine Oliven, kein Weißbier und keinen Schweizer Käse. Der Rotwein kam bestenfalls aus Algerien, nicht aus Frankreich. An all diesen Dingen habe ich Gefallen gefunden, auch an frischem Fisch. Doch Matjes habe ich, wie einst „Scomber Mix“, immer im Haus. Thomas Gerlach

30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

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Hamburger*innen verlassen Hamburg nur selten. Denn Hamburg, so wurde es mir von klein an beigebracht, ist die beste Stadt der Welt. Alles südlich der Elbe ist München und dann gibt es halt noch Berlin. So war es fast schon skandalös, als ich mich 2013 dazu entschied, mein Studium in Leipzig fortzusetzen. Ich blieb ganze sieben Jahre und das sehr gern.

Unabhängig von allen politischen Diskursen, ist mir vor allem die Gastfreundschaft in Erinnerung geblieben. Seltsamerweise wurde ich im hochgelobten Hamburg nie so häufig und selbstverständlich zum Essen eingeladen wie in Leipzig. Es wird viel gekocht, getrunken und lange verweilt. Diese Art von Beisammensein kannte ich bis dahin nicht im bio-deutschen Kontext. In Hamburg bleibt man unter sich. Die sächsische Essenskultur hat mich immer stark an die meiner Freunde mit internationaler Geschichte erinnert.

Ich bin dankbar für diese Erfahrungen, und nehme sie nun mit nach Berlin. Und noch etwas ist mitgekommen: Der morgendliche Schwarztee wird nur noch mit Milchpulver getrunken. Super ekelhaft, aber sehr lecker. Danke Leipzig. Celina Ploenes

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Wahnsinn! 18 Jahre nach der Wiedervereinigung stand ich wie angewurzelt in einem Supermarkt in Buenos Aires. Der Mund offen, die Augen feucht. Aus der Ferne drangen spanische Worte zu mir: „Señor, todo bien?“ „Si, todo bien – alles gut.“

Im Regal, direkt vor mir auf Augenhöhe, zwei Flaschen: Werder Curryketchup. Wahnsinn! Nicht mehr, nicht weniger. Ich kaufte beide Flaschen, trug sie wie kostbare Schätze nach Hause und genoss sie nach und nach zu improvisierter Currywurst. Mit jedem Biss überkamen mich die Erinnerungen.

Als gebürtiger Wessi lebte ich zu Zeiten der Maueröffnung in Berlin-West, hatte aber schon vorher einen lieben Kontakt nach drüben. Irgendwann hatte ich von dem Kult-Tomatenketchup des Ostens gehört, der aus Werder an der Havel kam und auch für liebe Westkontakte nicht zu bekommen war.

Probieren konnte ist ihn erst, als er auf dem Westmarkt mit dem neuen „Werder“-Logo auftauchte. Es ist kein Wunder, dass Werder als eine von wenigen Ostmarken überlebte. Wie es aber von der Havel an den Río de la Plata kam? Keine Ahnung. Es blieb eine einmalige Begegnung. Wahnsinn! Jürgen Vogt

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Das erste Mal aß ich Glasnudeln in Nordkorea, im April 1984. Ich war 19, hatte wenige Monate zuvor Abitur gemacht und arbeitete als redaktionelle Mitarbeiterin bei einer Zeitung in der DDR. Eigentlich sollte eine ältere Kollegin mit einer Journalistengruppe nach Nordkorea reisen. Aber: Kind krank, niemand „Gestandenes“ konnte kurzfristig einspringen. Also ich. Und dann lernte ich Glasnudeln kennen. Und Kimchi, Seetang, Bibimbap, Bulgogi.

Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Die ich intensivieren konnte, als die Mauer fiel. Im Westen futterte ich mich gefühlt durch alle asiatischen Restaurants, Imbissbuden, Cafés. Und weil ich es nun kann, reise ich, so oft es nur geht, nach Vietnam, Kambodscha, China, Taiwan, Myanmar, Laos, Thailand, Sri Lanka, Indien. Und esse dort, ausschließlich am Straßenrand, Nudelsuppen, gedünstetes Gemüse, eingelegten Tofu, mariniertes Rindfleisch, Currys …

Einer meiner Lieblingssnacks sind gegrillte Hühnerfüße: direkt vom Rost, knusprig, mit einem Dip aus Salz, Chili, ­Zitronensaft. Wenn es im Mund schnurpst und Sekunden später die Schärfe des Chili in der Kehle feuert, kann meinetwegen alles passieren. Mir ist es dann egal. Simone Schmollack

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In den 1970er Jahren eröffnete in unserem niedersächsischen Dorf das Eiscafé Italia. Es brachte uns neue Sorten wie „Stracciatella“ und „Malaga“ und Eiskreationen namens „Sandokan“ oder „Black and White“. Ich aß mein Eis allerdings immer lieber pur.

Erst mit dem Mauerfall änderte sich das, denn dann lernte ich den Schwedeneisbecher kennen. Vanilleeis, Schlagsahne, Eierlikör und – Apfelmus. Zum Namen dieser DDR-Spezialität gibt es verschiedene Theorien. Eine besagt, dass während der Olympischen Winterspiele 1952 die schwedische Eishockeymannschaft gegen die der BRD gewann. Aus Freude darüber habe Walter Ulbricht seinen Lieblingsnachtisch „Schwedeneisbecher“ genannt. Andere erklären den Namen mit der Schweden-Sehnsucht, die DDR-Bürger*innen an der Ostsee befiel.

Meine Dresdner Freundin hatte eine viel profanere Erklärung: Nach einer überreichen Ernte mussten sämtliche DDR-Zeitschriften Apfelrezepte veröffentlichen. Um ihn besser zu vermarkten, bekam der Eisbecher dann diesen „exotischen“ Namen.

Letztendlich ist das alles aber auch egal, denn der Schwedeneisbecher ist einfach verlässlich gut, auch wenn man, wie ich, den Eierlikör weglässt. Und das Beste: Man kann ihn auch zu Hause ganz schnell selber machen. Gaby Coldewey

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Meine ersten kulinarischen Höhepunkte nach dem Mauerfall waren die eines neunjährigen Kindes. Mit der Wiedervereinigung waren die Imbisswagen in unseren Badeort an der Ostsee gerollt. Und mit ihnen Pommes to go und hellblaue Eistruhen von Schöller. Waren wir Kinder früher zur Eisdiele gesprintet, wenn sich herumgesprochen hatte, dass es statt Vanille- und Schoko- auch Erdbeersofteis gab, wickelte ich nachmittags nun ein Vanille-Erdbeereis, überzogen mit einer knallroten toxischen Zuckercremeglasur mit Kaugummistil, namens Bum Bum aus der Plastefolie. Irre!

Andere Überraschungen aus den über Nacht mit Westwaren vollgekrachten Konsumregalen waren: Milchschnitte (als Nachtisch), Kellog’s Coco Pops (zum Frühstück), Erdbeerjoghurt (meine Mutter kaufte ihn stiegenweise), Gesichtswurst (schmeckte schlechter, als sie aussah) und später auf dem Heimweg von der Disco Heiße Hexe-Burger von der Tankstelle. Die labbrigen Burger schmeckten überwürzt und waren gefährlich, weil man sich beim Aufreißen der mikrowellenheißen Verpackung die Finger verbrannte. Aber Mitternachts­fastfood zwischen Deich und Meer? Unschlagbar!

Und so kam es, dass meine Familie ab Mitte der 1990er Jahre am Kaffeetisch feststellte, dass die Wende nicht nur offene Grenzen, sondern auch zehn Kilogramm mehr auf die Waage gebracht hatte. Julia Boek

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