Hamburg trickst bei der Coronastatistik: Karteileichen relativieren Fallzahlen

Ab sofort rechnet Hamburg mit einer nachweislich falschen, überhöhten Einwohnerzahl, damit die Infektionen pro 100.000 niedriger scheinen.

Ein Mann in Schutzkleidung nimmt bei einer Frau eine Speichelprobe

Wenn's positiv ist – halb so schlimm, so lange man genug Einwohner auf dem Papier hat Foto: Daniel Bockwoldt/dpa

Auch in Hamburg steigt die Zahl der neu mit dem Coronavirus Infizierten von Tag zu Tag an. Laut Robert-Koch-Institut lag die Sieben-Tages-Inzidenz, also der Wochenschnitt der registrierten Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner*innen, am Dienstag schon bei 30,3. Bedenklich nah an jenen 35, ab denen der Senat nach den Beschlüssen der Ministerpräsident*innen weitere Einschränkungen etwa für die Teilnehmerzahl von öffentlichen und privaten Feiern verhängen müsste. Das ist unpopulär und in Hamburg, spätestens seit Innensenator Andy Grote (SPD) für seine Weiter-so-Sause 1.000 Euro Bußgeld berappen musste, ein heißes Eisen.

Doch dann meldete Hamburgs Sozialbehörde für denselben Stichtag eine Sieben-Tages-Inzidenz von „nur“ 28,7. Eine Trendwende? Nein, nur ein statistischer Taschenspielertrick. Denn in der Sozialbehörde dachte man sich offenbar: Wenn zu viele Fälle diagnostiziert werden, brauchen wir eben eine größere Grundgesamtheit.

Hamburg rechnet ab sofort, anders als das RKI es für alle Bundesländer tut, nicht mehr mit einer aus dem Mikrozensus von 2011 fortgeschriebenen Einwohnerzahl, sondern mit allen Ende 2019 gemeldeten Hamburger*innen. Da sind bis zu 100.000 Karteileichen dabei, die längst weggezogen sind, aber schlicht vergessen haben, sich abzumelden. Hamburg kommt so auf mehr Einwohner*innen – und, schwupps, weniger Coronafälle pro 100.000.

Eine gewiefte und irgendwie sympathische Schummelei, könnte man sagen. Die fiktiven (Ex-)Hamburger*innen nämlich werden anderswo getestet und, falls positiv, verbucht. Sie treiben allenfalls an ihren neuen Wohnorten die Zahlen in die Höhe, wo sie in Relation zu einer realistischen Einwohnerzahl auch noch stärker ins Gewicht fallen.

Die Corona-Toten sind keine Karteileichen, sondern echte. Ob sie schon abgezogen sind?

Man könnte diese Zahlenakrobatik auch unsolidarisch nennen. Mit der öffentlich zur Schau gestellten Sorge des Bürgermeisters ist sie schwer in Einklang zu bringen, täuscht sie doch die Hamburger*innen über den Ernst der Lage hinweg. Denn die 239 Coronatoten sind keine Karteileichen, sondern echte. Da kann man den just pensionierten Oberrechtsmediziner Klaus Püschel fragen, der sie – gegen den Rat des RKI – alle aufgeschnippelt hat. Ob sie wohl von der Einwohnerzahl Ende 2019 schon abgezogen sind? Jan Kahlcke

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Jan Kahlcke, war von 1999 bis 2003 erst Volontär und dann Redakteur bei der taz bremen, danach freier Journalist. 2006 kehrte er als Redaktionsleiter zur taz nord in Hamburg zurück

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