Opfer des Terroranschlags von Hanau: „Wir wollen Gerechtigkeit“

In einem offenen Brief fordert ein Bündnis mehr Hilfe für die Familien der Opfer. Bund und Land reagieren verhalten.

Angehörige der Opfer von Hanau bei einer Gedenkveranstaltung

Angehörige gedenken der Opfer des Anschlags vom 19. Februar Foto: Patrick Scheiber/imago

Es gibt kein Wort für das, was ich bin, für den Schmerz, den ich fühle“, sagt Nicolescu Păun. „Wenn deine Eltern sterben, bist du eine Waise. Wenn deine Frau stirbt, ein Witwer. Wenn dein Sohn stirbt, bist du niemand“, sagt der Vater von Vili Viorel Păun, einem der Opfer des Anschlags in Hanau vom 19. Februar. Am Telefon klingt seine Stimme heiser.

Sieben Monate ist es her, dass ein rassistischer Attentäter in und vor zwei Shishabars in Hanau neun Menschen mit Einwanderungsgeschichte erschoss. Der Täter hatte seine Opfer gezielt nach Herkunft ausgewählt. Mit dem Tod ihrer Angehörigen ging auch in den Familien der Opfer etwas zu Bruch. Bis heute kämpfen sie mit den Verlusten.

Viele sind traumatisiert, können nicht mehr arbeiten. Einige müssen weiterhin in Hanau-Kesselstadt wohnen, zwischen Tatort und Täterhaus, weil sie keine bezahlbare Wohnung in einem anderen Stadtteil finden. Auch das fehlende Einkommen der Opfer, die Arbeitsunfähigkeit der Angehörigen, belastet die Familien finanziell.

Diese Missstände prangert jetzt ein Bündnis um die Initiative „19. Februar Hanau“ an. In einem offenen Brief mit dem Titel „Für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit“ schreiben sie: „Niemand kann den Angehörigen der neun Opfer des rassistischen Terroranschlags vom 19. Februar ihre Liebsten zurückbringen. Kein Geld der Welt kann Ihr Leid wieder gutmachen. Doch es erscheint als das Mindeste, dass die Angehörigen materiell abgesichert werden.“

Bisher hat der Bund eine Million Euro gezahlt

Konkret fordern die Verfasser*innen, dass der Staat die Suche nach Ersatzwohnungen für Angehörige finanziell unterstützt und die Differenz zu ihrer jetzigen Miete zahlt. Zudem bedürfe es einer unbürokratischen Ausgleichsfinanzierung für die Einkommensverluste der neun Opferfamilien.

Bisher hat der Bund im Rahmen einer Härtefallleistung eine Millio­n Euro an Angehörige der Opfer ausgezahlt. „Das klingt nach einer Menge Geld, bietet verteilt auf Dutzende Hinterbliebene aber keine soziale und finanzielle Absicherung“, sagt Newroz Duman, Mitgründerin der Initative.

Das Land Hessen stellt zudem mit dem Sonderförderprogramm Hanau 600.000 Euro zur Verfügung. Die Staatskanzlei Hessen schreibt, dieses Geld solle in Projekte fließen, die die Angehörigen unterstützen. „Die Projekte helfen uns Familien direkt gar nicht“, kritisiert jedoch Nicolescu Păun, der Vater eines der Opfer. Ein Teil des Geldes sei bereits an ein Museum und ein antirassistisches Lesecafe vergeben worden. „Das sind gute Projekte, aber bei uns kommt die Hilfe nicht an.“

Die Probleme der Angehörigen sind nicht unlösbar

Ein weiterer Punkt der Nicolescu Păun aufbringt: Die Stadt Hanau übernahm die Kosten für die Gräber dreier Opfer, die in Hanau beerdigt wurden. Für die weiteren Opfer, die in Bulgarien, Rumänien, der Türkei und in zwei deutschen Heimatstädten der Opfer beerdigt wurden, mussten die Familien jedoch selber aufkommen. „Wir würden uns wünschen, dass alle Opferfamilien gleich behandelt und bei der Beerdigung unterstützt werden“, sagt Păun.

„Diese Probleme der Angehörigen sind nicht unlösbar“, sagt Newroz Duman. Nach dem Anschlag hätte die Politik gesagt: „Wir sind bei den Familien, wir fühlen mit ihnen.“ Doch jetzt zeigten Bund und Land keinen Willen, den Familien wirklich beizustehen.

Als Reaktion auf den offenen Brief schreibt der SPD-Bürgermeister von Hanau, Claus Kaminsky, „Wir lassen die Angehörigen nicht allein.“ Die Stadt sei für die Familien mit drei Mitarbeitern rund um die Uhr ansprechbar. Die Wohnungsvermittlung gestalte sich jedoch in einigen Fällen schwierig. So habe die Stadt bereits 47 Wohnungsangebote an mittelbar und unmittelbar Betroffene unterbreitet. Für jede Familie eine individuell passende Lösung zu finden, sei jedoch nicht leicht.

Auf Anfrage signalisierten Kanzleramt und Landesregierung Hessen ihre generelle Unterstützung für die Familien der Opfer. Die Forderung nach zusätzlichen Hilfen griffen sie jedoch nicht auf. Am Mittwoch trifft Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Hinterbliebenen von Hanau im Schloss Bellevue. Auch dort werden die Familien der Opfer ihr Anliegen vortragen.

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Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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