„Gebt den Leuten keine Almosen“

Ab Januar soll die „Spiegel“-Redakteurin Annette Bruhns neue Chefredakteurin von „Hinz & Kunzt“ werden. Sie will das Magazin thematisch breiter aufstellen

Foto: Andreas Hornoff

Annette Bruhns

54, Spiegel-Redakteurin, wird zum 1. Januar 2021 neue Chefredakteurin von Hinz & Kunzt. Sie löst Birgit Müller ab.

Interview André Zuschlag

taz: Frau Bruhns, bald geht das Winternotprogramm wieder los, das von Hinz & Kunzt immer sehr intensiv begleitet wird. Was halten Sie von dem Programm?

Annette Bruhns: Das kann ich noch nicht beurteilen – ich kenne all diese Projekte ja nur aus der Distanz. Für eine Meinungsbildung möchte ich erst mit den Beteiligten sprechen. Das steht bereits auf meinem Programm. Fest steht: Es ist ein Grundproblem, dass viele Obdachlose lieber draußen schlafen als in einer Gemeinschaftsunterbringung. Das ist verständlich, aber schrecklich, wenn es draußen richtig friert.

Warum hören Sie nach 25 Jahren als Spiegel-Redakteurin auf und wechseln zu Hinz & Kunzt?

Das Motiv ist, zu Hinz & Kunzt zu gehen – und nicht, den Spiegel zu verlassen. Ich bin dem Spiegel dankbar, dass ich sehr viele verschiedene Sachen machen konnte, unter anderem auch zehn Jahre lang Magazine gestalten: Spiegel Wissen und Spiegel Geschichte. Das hat mir großen Spaß gemacht. Chefredakteurin von Hinz & Kunzt zu werden, ist deshalb verlockend: Ich darf den sympathischsten Job antreten, den der deutsche Journalismus zu vergeben hat – und mit einem tollen Team tolle Magazine machen.

Wie war bislang Ihr Blick auf das Heft als Außenstehende?

Hinz & Kunzt bringt viele interessante Themen und man spürt, dass da eine professionelle Redaktion sitzt. Hinzu kommt: Jeder in Hamburg weiß, dass die Straßenverkäufer – also die Hinz-&-Künztler – durch den Verkauf der Zeitung einen Job haben. Sie haben es verdient, dass die Menschen ihr Magazin nicht aus Mildtätigkeit kaufen, sondern weil sie es wirklich lesen wollen. Und das hat meine Vorgängerin, Birgit Müller, bisher all die Jahre geschafft.

Und wo wollen Sie mit dem Heft hin?

Ich sehe Hinz & Kunzt als straßenpolitisches Magazin, das hin- und nicht wegguckt. Als soziale Stimme Hamburgs ist es nicht nur für das Thema Obdachlosigkeit zuständig. Es soll sich Fragen widmen, die alle betreffen, die hier leben, Jung und Alt: Sind unsere Kitas gut aufgestellt? Wie integrieren wir Menschen mit Demenz? Wollen wir uns weiter die Schließung von Schwimm­bädern gefallen lassen?

Können Sie angesichts der begrenzten Mittel überhaupt so viele Themen bearbeiten?

Wir sind in der Tat eine kleine Mannschaft mit kleinem Budget. Aber es gibt ja bereits Spenden in Form von Arbeit: Viele HamburgerInnen unterstützen Obdachlose mit ehrenamtlicher Arbeit, etwa bei der Tafel. Hier leben aber auch viele großartige JournalistInnen, die für Hinz & Kunzt vielleicht alle Jahr mal etwas pro bono schreiben könnten. Solchen Stücken würde ich als Chefredakteurin gerne Platz machen, auch wenn ich sehr gerne schreibe. Und in Düsseldorf sollen KünstlerInnen Kunstwerke für das dortige Straßenmagazin gespendet haben – vielleicht mag ja ein Jonathan Meese oder ein Otto Waalkes etwas für Hinz & Kunzt erschaffen?

Soll das Heft künftig weiter gedruckt werden? Wegen der Coronapandemie wurden zwei Ausgaben nur digital publiziert – und die Spendenbereitschaft war riesig.

Mit dem Verkauf von Magazinen gibt Hinz & Kunzt Obdachlosen einen Job, eine Arbeit an festen Verkaufsplätzen, mit regelmäßigem Kontakt zu Käuferinnen und Käufern. Das ist wichtiger als jede Spende. Dadurch wird aus einem Schicksal eine Chance. Das geht aber nur, wenn die VerkäuferInnen etwas in der Hand haben. Straßenmagazine können deshalb nicht vom Print aufs Digitale umstellen. Hier mein Werbeblock: Kauft Hinz & Kunzt! Gebt den Leuten vor den Supermärkten keine Almosen, sondern bezahlt für die Magazine. Die Hälfte der Verkaufserlöse bleibt ja bei den VerkäuferInnen.

Aber vor allem jüngere Leute lesen immer mehr digital. Wie wollen Sie sich dagegenstemmen?

Das Heft muss ein Vintage-Image bekommen, also etwas sein, das alle schon wegen dieses Images haben wollen. So ein Image lässt sich paradoxerweise prima über soziale Medien transportieren, etwa durch Vernetzung mit starken Partnern. Ein Beispiel: Wenn Fridays For Future auf Instagram auf uns hinweist und propagiert: Wir wollen nicht nur, dass die Straßen weniger heiß werden, sondern auch, dass auf ihnen weniger Menschen darben müssen, deshalb liebe Follower, kauft Hinz & Kunzt! Das wäre auch für Fridays for Future hilfreich: Die Umweltfrage und die soziale dürfen nicht getrennt voneinander gedacht werden. Sonst werden sie gegeneinander ausgespielt.

Also ist das Digitale nur Beiwerk?

Nein! Kürzlich ist ein Obdachloser in St. Georg gestorben, dem die Feuerwehr und Polizei nicht geholfen hatten – das wurde sofort bei Hinz & Kunzt online gecovert, da käme das Monatsheft natürlich viel zu spät. Hinz & Kunzt hat, wie jedes politische Magazin, auch eine politische Funktion: Den Finger in die Wunden zu legen, damit Politik und Gesellschaft handeln! Und das macht die Redaktion großartigerweise längst auch online.