Die Gesichter des Umbruchjahrs 1990: Alles teilt sich blitzschnell mit

Wir sind das Volk? Wir sind ein Volk. Der Band „Das Jahr 1990 freilegen“ ist eine faszinierende Materialsammlung aus dem Jahr der Transformation.

Junger Mann mit Deutschlandfahne auf dem Alexanderplatz

Batman, Deustchland und die CSU. Vor der Kundgebung von Theo Waigel in Leipzig, 19. Februar 1990 Foto: Andreas Rost

Das Jahr 1989 war das Jahr der Revolution, des Umbruchs, der „Wende“. 1990 war das die Betroffenen wie unsere Gegenwart prägendere Jahr der Transformation. Zwischen dem 9. November 1989, dem Tag, an dem die Berliner Mauer fiel, und dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, liegen elf Monate, in deren Verlauf sich der Ruf „Wir sind das Volk“ schnell zur Parole „Wir sind ein Volk“ wandelte und die D-Mark als gemeinsame Währung in der DDR eingeführt wurde.

Der Nationalismus war schon vorher da gewesen, so wie die Neonazis und ultrakonservative Bürgerrechtler. Bestimmend wurde er aber erst im Jahr 1990, und für viele Bürger der DDR war er nicht mit Chauvinismus und Überlegenheitsgefühlen verbunden, sondern eine nüchterne, beinahe pragmatische, realpolitische Option. „Ich bin auch der Meinung, diese Wiedervereinigung muss also so schnell wie möglich kommen, es darf also nicht allzu lange gewartet werden. Und bis zum Jahresende müsste das durchgestellt werden, denn sonst wird eine Massenflucht entstehen“, sagte Ende Januar 1990 ein Demonstrant in Dresden einem Reporter.

Zitiert wird der Mann, der für viele sprach, in dem Band „Das Jahr 1990 freilegen“. Dieses fast 600 starke Kompendium ist Konvolut von Quellen, Fotoband und Chronik in einem. Der Großteil des Werks besteht aus Material, das im Jahr 1990 oder bald darauf in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen entstanden ist.

Editiert hat dieses faszinierende Geschichtsbuch Jan Wenzel in Zusammenarbeit mit Jan-Frederik Bandel, Anne König, Christin Krause, Elske Rosenfeld, Andreas Rost, Wolfgang Schwärzler, Monique Ulrich und Anna Magdalena Wolf. Es ist bei Spector Books erschienen, anderthalb Kilo schwer und enthält eine Vielzahl von Fotografien, aber auch Werbeanzeigen aus Zeitschriften (1990 war das Jahr des Chanel-Parfums „Égoïste“) und Aufnahmen des durchs All fliegenden Teleskops Hubble.

Live aus dem Böll-Studio wird am Freitag, 2. Oktober, 19.00–20.30 Uhr, ein Gespräch gestreamt mit Jan Wenzel, Herausgeber der Publikation „Das Jahr 1990 freilegen“, Annett Gröschner, Autorin, Sergey Lagodinsky, Abgeordneter der Fraktion Die Grünen/EFA und Milan Horáček, der das erste Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag aufgebaut hat.

Im Potsdamer Hans Otto Theater wird am 7. Oktober der zweite Teil der vierteiligen Lesungsreihe „Das Jahr 1990 freilegen“ stattfinden. 19.30 Uhr, Reithalle.

Die Leute wären der DDR weiter davongelaufen, der dritte Weg, von dem viele linke Oppositionelle, aber wohl auch manche innerhalb der SED/PDS träumten, war nie eine realistische Option. Andreas Rost erzählt dazu der taz, wie der damalige SPD-Bürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, Pflegepersonal und Ärzte nach Leipzig schickte, weil die medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet war. Rost erinnert sich daran, weil er damals, mit 23, am Runden Tisch der Stadt Leipzig saß.

Die Enttäuschung über das Scheitern der Utopie des Dritten Wegs zwischen real existierendem Sozialismus und einem Kapitalismus westlicher Prägung lasteten manche Künstler und Intellektuelle dem Volk an, und darin war ihre Reaktion derjenigen der Nomenklatura des Systems auf die Revolution nicht unähnlich, sagt Rost, Fotograf und einer der Besetzer des Tacheles in der Oranienburger Straße in Berlin.

Die Stasi-Erzählmaschine

Die einen schwenkten Deutschlandfahnen, die anderen meldeten Widerspruch an. Linke Demonstranten zeigten während einer Wahlkampf-Kundgebung von Helmut Kohl am 14. März 1990 in Leipzig ein Transparent, auf dem steht: „Fressen Ficken Fernse- hen.“ Obwohl das Foto wie fast alle Bilder dieses Bandes schwarz-weiß ist, lässt sich erkennen, dass die Wörter in schwarz, rot und gold geschrieben wurden.

„Alles teilt sich blitzschnell mit. Wenn in Karl-Marx-Stadt der Generalstreik ausgerufen wird, bekommt man das vielleicht am Telefon gesagt, gleichzeitig nimmt man aber wahr, wie an vielen anderen Orten auf eine solche Nachricht bereits reagiert wird“, erinnert sich Klaus Wolfram an diese dynamische Zeit, in dem ein Land in eine Bewegung geriet, die einem Tumult glich.

Jan Wenzel (Hg.): „Das Jahr 1990 freilegen. Remontagen der Zeit“. Spector Books, Leipzig 2019, 592 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 36 Euro.

In den ersten Januartagen reiste der westdeutsche Autor Martin Gross nach Magdeburg und verbrachte einen großen Teil des Jahres in der DDR. Er formulierte eine postmoderne Systemtheorie: „Man hatte den Sicherheitsapparat über die ganze Gesellschaft ausgedehnt, aber damit die gesellschaftlichen Widersprüche in ihn hereingeholt, die Gleichgültigkeit, die Verlogenheit, die Kumpanei und den Opportunismus. … Am Ende verwaltete ein riesiger Apparat seine eigenen Fiktionen. Zweihunderttausend Stasi-Autoren, die an einem einzigen großen Text woben – die größte Erzählmaschine der Welt.“

„Das Jahr 1990 freilegen“ ist Gegenentwurf zur Stasi-Erzählmaschine. Es versucht nicht aus einer ideologischen Position zu sagen, was war, sondern die Vielfalt der Wirklichkeiten aufzublättern. Für Herausgeber Wenzel ging es nicht darum, ein neues Buch zu schreiben, sondern zu sammeln, was längst da ist. Dass das die vielleicht beste Methode ist, ein Jahr des Übergangs abzubilden, zeigt dieses Buch. Ob wiederum Gross mit seiner Theorie der „Erzählmaschine Stasi“ deren Charakter voll erfasst hat, ist eine andere Frage.

Monika Haeger, die für die Stasi die Friedensbewegung bespitzelte, analysierte in einem Gespräch mit Irena Kukutz und Katja Havemann im Frühjahr 1990: „Das war die fiese Praxis: Genossen, die innerhalb der Partei kritisch, aufmüpfig waren, zur Stasi bringen. Dann konnten die in den ‚feindlichen‘ Gruppen voll agieren, unter der schützenden Hand der Stasi ihr kritisches Potenzial verwirklichen. Das ist ja der Wahnsinn, diese Schizophrenie. Aus den Parteigruppen waren die kritischen Leute raus, die Parteigruppen blieben sauber, und in der Stasi konnte man die Klappe aufreißen. Das hat dort niemanden gestört.“

Um die Menschen des Jahres 1990 besser zu verstehen, kann man in ihre Gesichter blicken. Denn das ist dieser Band auch: eine Sammlung vieler Porträts. Darüber hinaus eine kaum zu überschauende Fundgrube an Geschichten und Bildern. Es finden sich darin etwa Protokolle der Sitzungen des Zentralen Runden Tisches der DDR, Passagen aus Zeitungsartikeln, die Abschrift eines Gesprächs von Friedrich Schorlemmer mit Günter Gaus, politische Analysen von Kurt Biedenkopf, Erinnerungen der ersten Besetzung einer Stasizentrale in Erfurt durch eine feministische Frauengruppe und viele Fotografien von Menschen auf der Straße, in den Betrieben, im Knast, beim Silvesterfeiern und beim Demonstrieren.

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