Jüdisches Neujahrsfest in der Ukraine: Pilgerfahrt wird zum Politikum

Tausende Juden aus Israel pilgern jedes Jahr in die Ukraine. Doch dieses Jahr hat Kiew die Grenzen dichtgemacht – auf Wunsch Jerusalems.

Orthodoxe Jüd*innen in Schlangen und Gruppen in der Stadt Uman

Feierlichkeiten des Neujahrsfestes Rosch Haschana in Uman im Jahr 2016 Foto: Oleg Petrasyuk/dpa

TEL AVIV taz | Einmal im Jahr platzt die zentralukrainische Stadt Uman aus allen Nähten: Rund 30.000 jüdisch-chassidische Pilger beten, tanzen und singen am Tag des Neujahrsfestes Rosch Haschana, das dieses Jahr am kommenden Freitag beginnt, am Grab ihres 1810 verstorbenen geistigen Anführers Rabbi Nachman. Die Pilgerfahrt, so versprach es Nachman, bringe seinen Anhängern seinen Segen und Beistand vor Gott.

Mitunter, so lauten Gerüchte, gehe es in Uman wild zu: Von Drogen und Prostitution ist die Rede. Die Pilgerfahrt ist das bedeutendste Ereignis im Kalender der Breslauer Chassiden, so benannt nach dem Geburtsort ihres Rabbis. „Rak lismoach jesch“ lautet eines ihrer Mottos: Es gibt nur Glücklichsein.

Doch davon ist dieses Jahr vor dem Hintergrund der Coronapandemie wenig zu spüren. Die Breslauer Chassiden sind sauer. Yehoshua Nadav, der darum bittet, seinen echten Namen nicht zu erwähnen, ist einer von ihnen. Jedes Mal ist er in den vergangenen zehn Jahren mit tausenden anderen von Tel Aviv nach Uman geflogen.

Doch in diesem Jahr hat der israelische Coronabeauftragte Roni Gamzu angesichts der hohen Infektionszahlen in Israel die ukrainische Regierung gebeten, ein Einreiseverbot für Nichtstaatsangehörige zu verhängen. Ende August schloss die Ukraine die Grenzen.

Yehoshua Nadav, Pilger

„Ich bin gerade noch hineingekommen. Viele Freunde haben es nicht mehr geschafft“

„Ich bin gerade noch hineingekommen“, berichtet Nadav am Telefon aus Uman. Als er von der geplanten Grenzschließung erfuhrt, ist er sofort von Tel Aviv nach Kiew geflogen. Statt 30.000 befinden sich laut Nadav derzeit lediglich zwischen 1.000 und 2.000 Pilger in Uman: „Viele meiner Freunde haben es nicht mehr geschafft. Einige von ihnen warten nun an den Grenzen zur Ukraine darauf, doch noch hineingelassen zu werden.“

Netanjahu und Ultraorthodoxe auf Konfrontationskurs

Der Streit über die Pilgerfahrt hat in Israel eine Krise losgetreten. Viele der Breslauer Chassiden und mit ihnen die meisten Ultraorthodoxen schäumen vor Wut – nicht nur über Gamzu, sondern auch über den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den sie für die Schließung der Grenzen verantwortlich machen.

Zum ersten Mal in der langjährigen Koalitionsgeschichte drohten ultraorthodoxe Communitys, Netanjahu nie wieder zu unterstützen. Für den innenpolitisch schwer angeschlagenen Netanjahu, der in drei Korruptionsfällen vor Gericht steht, wäre dies ein Desaster. Denn die ultraorthodoxen Parteien Vereinigtes Tora-Judentum und Shas waren bisher seine verlässlichsten Partner.

Risse bekommen hat das Verhältnis zwischen den Ultraorthodoxen und Netanjahu bereits während des Lockdowns zur ersten Welle der Coronapandemie. Ultraorthodoxe kritisierten ihre Parteien dafür, sich nicht energisch genug dafür einzusetzen, dass Synagogen und Jeschiwas geöffnet bleiben. Umso heftiger kämpfen die Parteien nun darum, das Vertrauen ihrer Wähler*innen wiederzugewinnen und die Massenreise nach Uman zuzulassen.

Im Versuch, sein Verhältnis zu den Ultraorthodoxen zu retten, kündigte Netanjahu die Bildung eines Komitees an, das eine Lösung ausarbeiten soll, wie die Breslauer Chassiden doch noch nach Uman fliegen können. Bislang ist dazu aber nichts bekannt geworden.

Stattdessen kam es am Sonntag zu einem Knall: Der ultraorthodoxe Wohnungsbauministers Yaakov Litzman trat zurück – aus Protest gegen den Lockdown, der ab kommenden Freitag in Kraft treten soll. Eine Abriegelung während der Feiertage werde „Hunderttausende von Juden aus allen Gesellschaftsgruppen daran hindern, in Synagogen zu beten“, begründete er seinen Schritt.

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