berliner szenen
: Anstellgut, Stock- und Stückgare

Vor ein paar Tagen stand ich in der Küche und streichelte in der Restwärme des Backofens einen frisch angeschnitten Laib. Mein erstes Kartoffelbrot mit dem selbst gezogenen Sauerteig! In den ersten Coronawochen belächelte ich die Leute, die Hefewürfel aus den Regalen zogen. Warum wollten alle plötzlich backen? Bis ein Kollege mir Ende August ein Einmachglas zusteckte. Er hatte mir zuvor Fotos mit von ihm rundgewirkten Broten geschickt und vollmundig erklärt, er würde nie wieder zum Bäcker gehen. Aus Hefemangel habe er selbst einen Sauerteig angesetzt. Ich war angefixt. Um ihm zu folgen, lernte ich eine neue Sprache: Anstellgut, Stock- und Stückgare, Rundschleifen, Mit-dem-Schluss-nach-Oben.

Dann fahndete ich nach Garkörbchen – selbst im kaum besuchten Kaufhaus in der Augustastraße ausverkauft. Mit dem Inhalt des Einmachglases, das mir der Kollege so zeremoniell überreicht hatte, als enthielte sie die Asche eines nahen Verwandten, setzte ich selbst einen Sauerteig an. Den fertigen Teig schob ich erwartungsvoll aufs Blech. Mit der Zeit bekam ich ein Feeling für die Sauerteigführung, bald kamen die Brote nicht mehr wie flache Flunder aus dem Ofen, sondern plusterten sich wie Truthähne auf. Irgendwann vergaß ich etwas Teig fürs nächste Brot abzuzwacken. Sollte ich meinen Freund um eine neue Ration fragen? Doch der hatte Berlin längst verlassen.

Ich fuhr im Urlaub in ein Kaff nach Mecklenburg und trauerte dem Sauerteig nach. Bis ich im Nachbardorf eine Windmühle sah. Ihre Flügel drehten sich. Die Mahlsteine auch. Der Müller stand im Hof, Feierabend, zwischen den schwieligen Fingern ein Cocktailglas. Ich kaufte Roggenvollkornmehl. Zurück in Berlin fügte ich etwas Wasser hinzu und es blubberte bald. Die guten Mikroben überschlugen sich diensteifrig. Timo Berger