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: Unterhose kaum größer als Mundschutz

An der Supermarktkasse darf man nicht zimperlich sein. Die Kassiererin ist es auch nicht. Ungerührt zieht sie einen Artikel nach dem anderen über das Band, egal ob der Kunde vor ihr eine Rüstung trägt oder im Badeanzug einkauft. Ich bin der normalste Mensch in der Schlange, aber das ist am Ende auch nur eine Frage der Perspektive. Heute ist wohl Thementag „nackte Haut“, die Mehrheit der Kunden trägt weniger als in den Clubs vor Corona. Warum auch nicht? Der Sommer ist fast um, wer weiß, wann der nächste Lockdown kommt.

Direkt hinter mir steht eine Frau, die sich unentwegt kratzt. „Kein Corona“, sagt sie beruhigend zu mir, als ob ich nicht mindestens so ungern Krätze haben würde. Ich rücke unauffällig ein Stück zur Seite, aber nicht zu weit, denn der Mann vor mir trägt praktisch gar nichts, zumindest nicht obenrum, auch seine Unterhose ist kaum größer als sein Mundschutz. Dafür trägt er eine Bettdecke überm Arm und hat sehr viel Kleingeld dabei. Ich bewundere die Kassiererin, die stoisch wartet, bis er alles abgezählt hat. Da es nicht reicht, beginnt er von vorne. Beim dritten Mal greift sie ein. „Fehlt ein Euro“, sagt sie. „Echt jetzt?“, fragt der Mann. „Echt jetzt!“, sagt sie.

Er dreht sich zu mir, und ich sehe, dass in seiner rechten Ellenbeuge eine Nadel liegt, eine echte Flexüle, wie man sie im Krankenhaus zur Gabe von Medikamenten benutzt. Die Flexüle ist fachgerecht befestigt, das Pflaster wirkt frisch, auf der Decke steht „Urban Krankenhaus“. Ich fühle mich ein bisschen wie Sherlock Holmes, als ich überlege, ob der Mann ausgebüxt ist oder versehentlich mit Flexüle entlassen wurde. Letzteres kommt gelegentlich vor, denn wenn das Ding gut befestigt ist, wird es oft vergessen. Wenn bei der Entlassung keiner nachfragt, merkt es am Ende erst der Partner abends im Bett. Ärgerlich für alle Beteiligten, denn je nachdem wie groß die Flexüle ist, wie sachgemäß die Entfernung durch den Partner erfolgt, kann es unangenehm nachbluten, und als betreuende Ärztin muss man dann den Patienten hinterhertelefonieren und sie wiedereinbestellen.

Die Größe der Flexülen ist an der Farbkodierung erkennbar, und ich bin beeindruckt, denn die Flexüle, die dem Mann in der Ellenbeuge steckt, ist grau, und das ist nicht übel, denn nach Grau kommt nur Orange, und größer als Orange gibt es nicht. Den letzten Patienten, der mit einer grauen Flexüle aus der Rettungsstelle entwischt ist, mussten wir sogar mit der Polizei suchen lassen, denn die, die ausbüxen, gehen in der Regel nicht ans Telefon.

Der Mann räuspert sich. „Haben Sie einen Euro?“, fragt er mich höflich. „Sind Sie ausgebüxt?“, frage ich zurück. „Nein, ich wurde ganz normal entlassen. Wie kommen Sie denn darauf?“ – „Na ja, die Decke.“ – „Ach so, die Decke.“ Er blickt ein wenig schuldbewusst. „Wenn Sie mich nicht verraten …“ Ich schüttle den Kopf. „Die habe ich mitgenommen, weil das Essen so schlecht war. Cafeteria wegen Corona geschlossen, hieß es, und dann nur dieser Stationsfraß. Da dachte ich, nehme ich wenigstens die Decke mit. Wird ja auch bald wieder Herbst.“ – „Verstehe“, sage ich. – „Haben Sie denn jetzt einen Euro?“ – „Nein, tut mir leid. Aber soll ich Ihnen stattdessen die Flexüle ziehen?“ – „Ach, das wäre nett. Ich würde ungern wieder in die Klinik zurück. Nicht, dass die die Decke wiederhaben wollen.“ – „Verstehe“, sage ich.

„Wenn sich dann vielleicht noch ein Euro findet“, meldet sich die Kassiererin zu Wort. „Ich habe einen“, sagt die Frau hinter mir und zieht eine Münze aus ihrer Tasche. Mit ihr hüpfen ein paar kleine Tierchen auf das Warenband. Im Edeka in der Schönleinstraße darf man nicht zimperlich sein. Eva Mirasol